Barmbek Erinnerungen von Ernst Broers
H&H, das Ende einer Barmbeker Traditionsfirma. Eine literarische Erzählung. (Namen und Orte sind frei erfunden)
In aller Stille hatte ein folgenschweres Ereignis stattgefunden: Die Firma Zunftherr hatte einen Interessenten für das Fabrikgelände in der City gefunden: Ein großes Kaufhaus wollte das zentral gelegene Grundstück kaufen. Man einigte sich über den Preis, die Stadtverwaltung stellte ein neues Grundstück am Rande der Stadt,“auf der grünen Wiese“, zu äußerst günstigen Bedingungen zur Verfügung und für die Schaffung neuer Arbeitsplätze gab es einen Kredit zu Niedrigstzinsen und einen großzügigen Zuschuss. Die Firma Zunftherr konnte bauen, sich vergrößern. Endlich!
Dass dafür in einer anderen Stadt mehr Arbeitsplätze verschwinden als Zunftherr in dieser Stadt neu schafft, das interessiert doch keinen Kommunalpolitiker.
Im Zweigwerk Hartmann kam wieder einmal der Herr Aufsichtsratsvorsitzende Bartelmeier zu Besuch. Sogar eine außerordentliche Betriebsversammlung wurde deshalb angesetzt. „Sicher wird er jetzt konkrete Vorschläge für die Zukunft des Zweigwerkes Hartmann machen.“, dachten die Betriebsangehörigen.
Sie hatten recht!
„Liebe Mitarbeiter! Ich konnte neulich nachts wieder einmal vor Sorgen um die Firma Zunftherr nicht schlafen und da ist mir klar geworden: Die Firma Heinrich Hartmann hat bewiesen, das sie nicht wirtschaftlich arbeiten kann.
Die Kosten für die von uns an sie vergebenen Aufträge lagen um 50 Prozent höher als bei uns. Dann der Unsinn, mit der Arbeit am Russenauftrag vor Vertragsunterzeichnung zu beginnen, 25 Millionen zu investieren, und so Herrn Hartmann junior unter Druck zu setzen! Wir kommen deshalb zu dem Schluss: Es ist besser die Firma Heinrich Hartmann zu schließen, als auch die Firma Zunftherr zu gefährden!“
Ist das etwa kein konkreter Vorschlag?
Kein Wort davon, dass die 50 Prozent Mehrkosten daher rührten, dass alle notwendigen Vorrichtungen und Werkzeuge von der Firma Heinrich Hartmann neu angefertigt werden mussten, dass die Fertigungspläne umgestellt und die Menschen sich einarbeiten mussten und dass das alles nicht im ersten Jahr wieder eingespart werden konnte. Kein Wort davon, dass durch das schlechte Material vom aufgezwungenen Lieferanten große Verluste entstanden waren. Und kein Wort davon dass die Russen die Unerfahrenheit des jungen Hartmann ausgenutzt und ihn geleimt hatten.
Dass er es versäumt hatte, die Zahlungsmodalitäten gleich zu regeln – oder doch mindestens bei H.H. auf das Fehlen hinzuweisen, verschwieg der saubere Herr ebenfalls. Ein wütender Protest brandete Herrn Bartelmeier entgegen und der Betriebsrat hatte Mühe, ihn aus dem Raum zu bringen, bevor er gelyncht werden konnte. Ein Protestmarsch bildete sich spontan, eine wichtige Straßenkreuzung wurde zur Hauptverkehrszeit blockiert. Autofahrer schimpften über die Behinderung.
Die Zeitungen berichteten am nächsten Tag davon, jedoch kaum über den Grund des Protestmarsches: Das 1200 Arbeiter und Angestellte einer weltbekannten, traditionsreichen Firma um ihre Arbeitsplätze, um ihre Existenz kämpften, kämpfen mussten, weil eine unfähige Geschäftsleitung den Betrieb ruinierte und die Geschäftsleitung einer anderen Firma der lästigen Konkurrenz den Todesstoß gab. Die Zeitungen schrieben auch nichts darüber, dass die Politiker der einen Stadt geholfen und die der anderen Stadt nichts dagegen getan haben. Und Herr Siemsen stöhnte: „Das einer immer alles besser weiß, daran ist man ja gewöhnt, aber das der Broers dann auch noch recht hat mit dem, was er sagt, daran gewöhne ich mich nie!“ Die neuen Werkhallen der Firma Zunftherr waren außerhalb der Stadt in Rekordzeit fertiggestellt und eingerichtet. Die Produktion wurde verlagert. Ein paar Arbeitslose fanden wieder eine Verdienstmöglichkeit. Für einige Menschen wurde der Arbeitsweg kürzer. Aber die meisten waren länger unterwegs. Das Verkehrsaufkommen im Einzugsgebiet wurde zur Freude der Tankstellenbesitzer, der Reparaturwerkstätten und anderer Geschäftsleute erheblich größer. Auch das brachte neue Arbeitsplätze – und eine höhere Umweltbelastung durch längere Fahrtzeiten mit dem Auto, denn an eine Anbindung an den Öffentlichen Personennahverkehr hatte niemand gedacht.
Die Firma Zunftherr hatte jetzt für den Stammbetrieb geräumige Werkhallen am Rande der Stadt, erstklassige Vorrichtungen und Werkzeuge von Heinrich Hartmann, und viele Tricks zur billigeren und trotzdem besseren Fertigung. Bessere Qualität in kürzerer Zeit. Gewusst wie! Und noch etwas erbeutete die Firma Zunftherr: Die bei HEINRICH HARTMANN neu entwickelte NC-Drehmaschine. Die Entwicklungskosten gingen selbstverständlich unter “ Verluste durch Heinrich Hartmann“in die Bilanz ein. Egal, ob bei korrekter Aufrechnung wirklich Verluste nachgewiesen worden wären oder nicht, der Beschluss war gefasst: „HEINRICH HARTMANN wird geschlossen!
Die Produktpalette, der Marktanteil wird von Zunftherr übernommen!“ 1000 Arbeitsplätze weniger in einer Großstadt, 200 weitere in einer kleineren – was macht Herrn Schuhler das aus, er behielt doch seinen Arbeitsplatz, sein Einkommen. Die Firma wurde nach seinen Worten auch nur „gesundgeschrumpft“ bis etwa 100 Mitarbeiter.
Als erste mussten die Lehrlinge gehen. Das mochte unabänderlich sein, aber musste Herr Schuhler es in dieser Form bekannt geben? „Guten Tag, meine lieben, jungen Freunde! Im Namen der Geschäftsleitung gratuliere ich Ihnen zur bestandenen Prüfung! Mit diesem erfolgreichen Abschluss Ihrer Ausbildung steht Ihnen der Weg in die Zukunft offen und dafür wünschen wir Ihnen alles Gute! Jetzt sind sie keine Auszubildenden mehr, sondern Fachkräfte. Ihr Ausbildungsvertrag ist somit beendet und sie können jetzt Ihre Papiere für das Arbeitsamt in Empfang nehmen. Wenn Sie sich beeilen, können Sie sich noch heute beim Arbeitsamt als Arbeitssuchende melden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen alles Gute für Ihren weiteren Lebensweg!“ Das war kurz, aber keineswegs schmerzlos! Verwirrt und betroffen sahen sich die jungen Menschen an. Das konnte doch nicht wahr sein, das träumten sie doch nur!
Sie meinten: „Wenn man nicht übernommen werden soll, muss das doch mindestens vier Wochen vor Auslaufen des Vertrages bekanntgegeben werden!“ Dann begriffen sie allmählich, dass sie nicht geträumt hatten! Selbst manchem jungen Mann standen Tränen in den Augen. Tränen der Wut und der Ohnmacht!
Was nützt es dass die Firma den Prozess vor dem Arbeitsgericht mit Pauken und Trompeten verlor, dass sie den entlassenen Mitarbeitern Lohn oder Gehalt für die gesetzliche Kündigungsfrist voll zahlen musste, das Bild vom Arbeitgeber war bei diesen jungen Menschen fürs Leben geprägt, und das der „Soziale Marktwirtschaft“ ebenfalls. Und Herr Schuhler handelte weiterhin im gleichen Stil: Bei den regulären Entlassungen – Verzeihung – Freistellungen sagte Herr Schuhler der Presse, man „müsste die Spreu vom Weizen scheiden“.
Dass er damit den jetzt arbeitslos gewordenen „lieben Mitarbeitern“ schadete, weil er sie als unfähig hinstellte, sie vor ihrer Familie, ihren Freunden und Bekannten blamierte und ihnen die Chance nahm, einen neuen Arbeitsplatz zu finden, wen interessierte das?
Herr Schuhler jedenfalls nicht, er war ja nicht der Blamierte, er behielt seinen Arbeitsplatz. Das einzig Gute an dieser Gemeinheit war, dass der Betriebsrat sich nicht mehr täuschen ließ, er verlangte einen Sozialplan! Gestaffelt nach der Betriebszugehörigkeit und Lebensalter wurden Richtlinien ausgehandelt, die Abfindungen zwischen 100 Mark und 24.000 Mark ergaben. Für die meisten Betroffenen einige hundert bis ein paar tausend Mark, für einige wenige Mitarbeiter, die man an den Fingern abzählen konnte, bis zur Höchstsumme.
Prompt schrieb am nüchsten Tag die berühmt – berüchtigte Zeitung mit den vier Buchstaben:
„Was wollen Die paar Arbeiter, die von Heinrich Hartmann entlassen werden müssen, denn noch alles haben?
Sie bekommen doch schon 24 000.- DM geschenkt!“
Womit bewiesen war: Die halbe Wahrheit ist die gemeinste Lüge!
Selbstverständlich verlangte der Betriebsrat eine Richtigstellung!
Und er bekam seinen Willen. Nur: Hätte man ihm kein Belegexemplar geschickt in welchem die Seite der Richtigstellung aufgeschlagen und diese rot eingerahmt war, er hätte sie ebenso wenig gefunden wie die weitaus meisten Leser.
Der Betriebsrat sah es mit Empörung und meinte:“Zum Glück leben wir in einer Demokratie mit einer freien, unabhängigen Presse!“ Er wollte für die Kollegen das Schlimmste abwenden und setzte einen Text auf, in welchem alle beweisbaren Tatsachen aufgezeigt und Unwahrheiten richtig gestellt wurden. Dann wandte er sich an „die freie, unabhängige Presse“, an eine Tageszeitung nach der anderen und wollte diesen Text als eine, von Spenden der Belegschaft bezahlte, Anzeige aufgeben. Er bekam eine Absage nach der anderen! Überall der gleiche Sinn der netten Worte: „Das mag ja alles richtig sein, was Sie da vorbringen, und wir haben auch volles Verständnis für Sie und Ihre Kollegen. Aber Sie müssen auch uns verstehen! Wir leben schließlich von unseren Anzeigenkunden, und die würden uns keine Anzeigen mehr geben. . .“ So hatte sich der Betriebsrat die „Unabhängigkeit“ der „freien Presse“ nicht vorgestellt: Eine Presse, die Ihre Freiheit an Anzeigenkunden verkauft!
Ernst Broers,Hamburg
Auszüge aus den literarischen Lebenserinnerungen
„Ein Blick in eine fremde Welt. Heiteres und weniger Heiteres aus der Welt der Fabrik“