Schriftzug Geschichtswerkstatt Barmbek in weißen Buchstaben vor einer roten Backsteinmauer

Barmbek Erinnerungen von Rainer Hoffmann

Meine Straße "Brüggemannsweg"in Hamburg, Barmbek-Nord

In dem magischen Alter zwischen „Eins, zwei, drei, vier Eckstein, alles muss versteckt sein“ und dem Erwerb des ersten Fahrrades, das aus Einzelteilen bei Fahrrad Richter an der Barmbeker Straße/Jarrestraße gekauft und von meinem Vater auf dem Boden in seiner „Werkstatt“ zusammengebaut worden war, bestand meine Welt aus 150 Metern Brüggemannsweg zwischen Meister-Bertram-Straße und Manstadtsweg in Hamburg-Barmbek in der Nähe des Barmbeker Krankenhauses.

 

Hier hat nicht der Kalender, sondern die Kleidung die Jahreszeiten festgelegt. Kurze Hosen – Frühling. Halb nackt im Rinnstein nach dem Gewitter oder später mit dem Fahrrad nach der Badeanstalt Ohlsdorf – Sommer. Lange Hosen – Herbst. Geschnürte Schuhe – Winter. Und die Arbeit, die bei Kindern „Spielen“ heißt: Murmeln waren Frühling, genauso wie Tretroller, Rollschuhe und Fahrrad, Messersteck, Länderklau, Kibbel und Kabbel, Springseil, Völker-, Fuß- und Treibball, Fußball-Wettkampf gegen die Nachbarstraße Lambrechtsweg, Fechten auf der „Victoria-Wiese“ waren Sommer. Mit der Räucherdose die Hauseingänge und die Umluft verpesten und Versteckspielen in den Hauseingängen war Herbst. Schneemänner auf dem Bürgersteig bauen und etwas später daraus Iglus fertigen, Schlittschuhlaufen und Eishockey spielen auf dem zugefrorenen Bramfelder See waren Winter.

 

Sechs Kinder stehen eng hintereinander auf dem Gehweg, lachen in die Kamera
Indianer am Hauseingang Brüggemannsweg Nr. 5

 

Etwas später im Leben erste Kontakte mit dem anderen Geschlecht, doch für 12 Jungen gab es nur zwei weibliche Wesen in der Straße. Im Brüggemannsweg war das Klein- und Mittelbürgermilieu zu Hause. Und hier war Wirtschaftswunderland. Zu Beginn unserer Straßen-Fußballkarrieren standen in unserem Straßenabschnitt überhaupt keine Autos. Kamen welche mit ihrem Statussymbol auf Besuch, so wurden sie gebeten, 50 m weiter zu parken. Selbstverständlich kamen die Autofahrer dieser Bitte nach, wohl auch schon um den kostbaren Lack der Leukoplastbomber (Lloyd) oder später der Borgwards vor den Fußbällen zu schützen. Nur vereinzelt schafften sich die Erwachsenen nach und nach zuerst ein Moped, dann einen Motorroller und nach einiger Zeit auch die ersten Autos an. Bis 1956 stellten die Fahrzeuge für unseren Straßenfußball jedoch kein Problem dar, später verlegten wir unsere Spiele auf die Victoria-Wiese und traten in den Post-Sport-Verein ein, um dort unserer Fußballleidenschaft nachzugehen und mögliche Fußballkarrieren zu begründen. Das einzige Telefon in der Straße befand sich bei der Familie von E. im Haus Nr. 7. Es stammte noch aus der Zeit, als Herr von E. Blockwart der Straße im Auftrag der Nazis war und in seiner braunen Uniform umherlief. Im eigenen Haushalt ging es auch wirtschaftswundermäßig voran: Loewe-Opta Radio mit Magischem Auge, Kühlschrank, Elektroherd und ein Fernseher wurden nacheinander angeschafft.

 

Während der Block auf der gegenüberliegenden Seite die Nachkriegszeit beendete, indem dort Narag-Heizungen die alten Kohleäfen ablästen, war daran bei uns nicht zu denken. In unserer Familie wurde freitags noch die Zinkbadewanne in Betrieb genommen, und das Wasser dafür auf dem Gas- und Kohleherd erwärmt. Ich umging schon sehr frühzeitig diese Prozedur, indem ich im Schwimmverein in der Badeanstalt nicht nur meine Bahnen zog, sondern mich zweimal in der Woche auch beim Duschen im Bartholomäus-Bad („Badlo“) gründlich reinigte. Im Sommer duschte man während der Freibadesaison im Ohlsdorfer-Freibad, dafür gab es extra Duschmarken, an der Kasse zu kaufen. Damit konnte man sich eine begrenzte Zeit dann mit warmem Wasser im Duschraum einseifen und abduschen.

 

Die große Zinkbadewanne diente aber nicht nur als „Vollbad“, sondern auch als Waschbottich. Allwöchentlich wurde hier die Wäsche am offenen Fenster in dampfenden Wolken gekocht, gewälzt und auf der Ruffel (Waschbrett) malträtiert.

 

Wohnstraße mit Bäumen und parkenden Autos zwischen mehrstöckigen Häusern
Die Straße Brüggemannsweg in Nord-Barmbek
von der Meister-Bertram-Straße aufgenommen, 2010

 

Auch nachdem der Kühlschrank schon angeschafft war, blieb der Tagesrhythmus meiner Mutter viele Jahre gleich. Sie kaufte täglich in der „Pro“ (Konsum Genossenschaft Produktion) in der „Fuhle“/Ecke Meister-Bertram-Straße ein. Alle Lebensmittel und Haushaltswaren waren dort zu erhalten, ein Schlachter gehärte genauso dazu, wie ein Milchladen und ein Backwarengeschäft. Die Leute, die dort kauften, hatten das Ansehen wie die Käufer bei Aldi in der Anfangszeit in den späten 1960er-Jahren.

 

Zumal sie mehrheitlich Anhänger der SPD (Sozial Demokratische Partei Deutschlands) waren. Den Unterschied zum Heute markiert das Soziologen-Wörtchen „soziale Kontrolle“. Die Straße war unser Wohnzimmer. Mutter musste sich nicht vom Schulschluss bis zum Einbruch der Dunkelheit aus dem Fenster hängen, um den Sohn im Blick zu haben. Mindestens ein halbes Dutzend Augenpaare spähte uns Kinder aus, angefangen von den beiden Nachbarinnen unter uns, die auch schon mal mit einem Gegenstand nach uns warfen, wenn sie meinten, wir würden sie stären. Die Familie J. war immer auf dem „Kiwief“, da sie sofort den Fußball einkassierte, wenn der Ball in ihren Vorgarten fiel. Wir schafften es zumeist nicht, vor ihnen in den Garten zu gelangen. Sie beobachteten uns rund um die Uhr. Später sollten wir uns bitter an ihnen rächen. Frau Pfeiler passte auf dem obersten Stock auf, dass Herbert, Manfred oder „Puttchen“ (Karl-Heinz war der Nachkämmling) nicht mit den neuen Stiefeln Fußball spielten. Wir hatten immer einen Blick nach oben gerichtet, um das Bewegen der Gardinen sofort an die drei weiterzugeben. Dann standen sie teilnahmslos am Straßenrand unseres Fußballfeldes und markierten die Schiedsrichter.

 

Regelmäßig kam auch der Polizist vorbei, mit dem Tschako auf dem Kopf. Er war unser Udl und wollte nicht der Feind der Kinder sein, wenn er von Frau und Herrn J. zum wiederholten Male gerufen wurde, da wir in der Straße Fußball spielten und vielleicht auch eine Fensterscheibe eingeschossen hatten. War dies geschehen, hielten wir kurz und entsetzt mit dem Spielen inne, gingen zu den Eltern und sammelten 30 Pf. pro Spieler ein. Mit „eingezogenem“ Kopf ging dann einer von uns zu der Nachbarin hin, wo das Unglück geschehen war und übergab den Betrag. Besonders günstig war es, wenn einer unserer Mitspieler aus der Familie der „Geschädigten“ stammte. Bei J. gestaltete sich die Angelegenheit weitaus komplizierter! Erst einmal bekamen wir den Ball nicht zurück. Von uns wagte sich bald keiner mehr zur Familie, da sie unsere erklärten Feinde waren. Mütter wurden als Diplomaten vorgeschickt, doch J. verweigerten sich häufig und riefen die Polizei. Zu unserem Glück hatte unser Udl diplomatisches Geschick und läste den Ball gegen die Gebühr für die Reparatur wieder aus. Er verwarnte uns mit einem Augenzwinkern in Gegenwart der J., ihr Neffe war ein bekannter Schauspieler. Bei unseren Eltern entschuldigte der Polizist sich für seinen dienstlichen Auftrag, und uns gegenüber sagte er an der Ecke Manstadtsweg, wo J. ihn und uns nicht sahen: „Jungs, ich habe selbst Kinder, ihr müsst aber ein bisschen vorsichtiger spielen!“

 

Mann im Anzug öffnet Autotür, trägt Blumenstrauß, geparkte Autos im Hintergrund
Rainer im Brüggemannsweg mit den Audi 60 auf dem
Weg zur Hochzeitsfeier von Petra u. Wolfgang, 1971

 

Besonders markant waren auch die Geräusche auf der Straße, wenn die Stadt erwachte. Gegen 04.00 Uhr härte man bei offener Fensterklappe die ersten Straßenbahnen klingeln, die die Fußgänger von den Schienen in der Fuhlsbüttler Straße vertrieben. Bald klapperte es laut, wenn der Milchwagen, ein LKW voller großer Milchkannen aus Blech, die lose Milch zu den Milchhändlern brachte. Die Flaschenmilch klapperte nicht viel weniger, sie wurde aber später ausgeliefert. Milch in Papp-Packungen war noch nicht erfunden. Natürlich begannen auch auf den großen Linden-Bäumen die Vägel ihr Gezwitscher und die Tauben gurrten. Die Bäume sind längst gefällt und durch neue Anpflanzungen ersetzt. Fußballspielende Kinder sieht man nicht mehr auf der Straße.

 

Rainer Hoffmann, 2021

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Barmbek Erinnerungen von Rainer Hoffmann