Barmbek Erinnerungen von Wolfgang Wunstorf
Frühling mit 7 am Rübenkamp (1961)
Die schwergängige Haustür stemmt er nur ein wenig auf, gerade weit genug, um sich aus dem dunklen Treppenhaus ins Freie zu winden. Hinter ihm liegt eine flinke Abfahrt am Treppengeländer aus dem 3. Stockwerk, so schnell und gewandt, wie es wohl kein anderer Siebenjähriger im ganzen Mietsblock vom Rübenkamp 80 a-c fertig bringen könnte. Er beherrscht das meisterhaft. Den angewinkelten Arm über den polierten Handlauf eingehängt, einen Fuß abstoßbereit gegen die Stufenkante gestemmt, noch einmal ruhig durchatmen, die Stille im Treppenhaus prüfen, und wenn die alten vergilbten Wände ihm dann aufmunternd zunicken, geht es schwungvoll hinunter bis zur ersten Wende. Die Richtungswechsel zwischen den Stockwerken verlangen besonderes Geschick, damit alle Bewegungen bis zum Parterre im Fluss bleiben.

Geländer im Rübenkamp
Heute hat er sicher eine Bestzeit erzielt. Niemand war ihm unterwegs begegnet, der zu grüßen gewesen wäre und damit die Rekordfahrt verdorben hätte. Es ging rasant durch alle Etagen, und sein schnellster Pullover garantierte wie schon so oft höchstes Tempo. Der blaugraue Pulli zeigte nicht mehr viel her, an den Ellenbogen war er schon mehrmals von der Oma gestopft worden, aber kein anderes Kleidungsstück glitt so wunderbar auf dem hölzernen Handlauf. Ganz sicher wäre er heute Sieger geworden, hätte sich ein Herausforderer mit ihm messen wollen, soviel stand fest. Also nahm sich Winfried etwas von dem stolzen Gefühl, das für die Gewinner bestimmt ist. Das Treppenhaus freute sich still mit ihm, er konnte es spüren. Nun entlässt es ihn in einen frischen und hellen Apriltag und wartet mit der Duldsamkeit betagter Gemäuer auf seine Rückkehr.
Er trabt zu der großen Linde auf dem Platz vor dem Haus, einem der beiden wichtigsten Treffpunkte aller Kinder der umliegenden Mietsblöcke. Tagsüber bietet der Platz eine freie Spielfläche. Die Mädchen spielen dort Geschichtenball und Gummitwist, die Jungen Fußball oder Messersteck, und alle zusammen spielen Kriegen, Verstecken oder Kippelkappel, eines der schönsten Spiele überhaupt. Erst abends parken dort einige Väter ihre Autos. Ein Opel Olympia, ein DKW und der graue Goliat der Nachbarn stehen dann dort. Auch Winfrieds Vater stellt jeden Tag nach der Rückkehr aus dem Büro seinen Wagen auf dem Lindenplatz ab. Vor zwei Wochen war er mit der neuen Arabella nach Hause gekommen. Alle haben sie bestaunt. Kein Vergleich mit dem Lloyd 600 zuvor, da war man sich einig.
Die Ladenzeile
Winfried guckt sich am Lindenplatz und vor den Läden um, aber von den Spielkollegen zeigt sich niemand. Vielleicht liegt es daran, dass noch Mittagszeit ist. Er blickt suchend den Grögersweg bis zur Schule Fraenkelstraße herunter, er geht dort in die erste Klasse, bummelt dann zwischen Laden und Linde hin und her, sieht durch das Schaufenster des Milchmanns auf die große Uhr hinter dem Tresen, erwägt und verwirft den Gedanken, Uwe herauszuklingeln – seine Mutter lässt ihn immer deutlich merken, dass das mittags störend ist – und beginnt ein wenig zu frösteln. Die Aprilsonne kann erst am Nachmittag den Lindenplatz bescheinen, jetzt ist es dort noch schattig und kühl. Winfried steckt die Hände in die Taschen seiner Lederhose, fühlt die 20 Pfennig vom letzten Taschengeld und die Glasmarmeln, die er sich vorhin eingesteckt hat.

Schulgebäude

Winfried schaut den Plattenweg entlang, der von seiner Haustür 80 c bis zum Rübenkamp führt, doch im Augenblick ist kein Mitspieler zu finden. Er lässt sich vom alten Dahlheim Salmis für 10 Pfennig abwiegen und geht mit der gefüllten Spitztüte in der Hand zum Lindenplatz zurück. Einige Salmis presst er mit der Zunge unter den Gaumen, wo sie sich langsam auflösen. Der Tüteninhalt wird bis zum Nachmittag reichen.
Mit Schlenderschritt nun zu Milchmann Willing ans Fenster, zuschauen, wie er Butter auf Vorrat abpackt. Klack klack, die hölzernen Spatel stechen und schlagen zackig die abgewogenen Butterportionen in Form, ruckzuck sind sie eingewickelt und aufgestapelt. Dabei die Augenbrauen gewichtig hochziehen und Erklärungen aller Art abgeben, ja, Herr Willing weiß Bescheid, und dass mag er den Hausfrauen auch zeigen. Seine Frau lächelt dazu und bedient die Kunden. Solange ihr Mann im Laden zu tun hat, sagt sie kaum etwas.
Jetzt kommt Frau Malchow vom zweiten Stock mit gefüllter Einkaufstasche aus dem Laden, wie immer mit ihrem Hütchen auf dem leicht geneigten Kopf. Im Gehen lächelt sie zu Winfried herüber. Er mag sie gern und schaut ihr nach, bis sie im Hauseingang verschwindet. Die Feder auf ihrem Hütchen wippt mit jedem Schritt.
Noch einmal zurück zum Lindenplatz. Zusammen mit dem Baum auf andere Kinder warten. Wieder Salmis an den Gaumen kleben. Schuhband ist auf. Neue Schleife binden. Erster Versuch ist nichts geworden, also nochmal. Salmitüte in die Tasche stecken. Mal eine Marmel vor das Auge halten: wie wird der bunte Farbstreifen im Innern wohl gemacht?

Gerdi grinst. „Wollen wir …?“ Schlagartig ist Winnfried von begeisterter Erregung erfüllt. Der große Gerdi will ein tolles Spiel machen und nimmt ihn, den so deutlich jüngeren, als vollwertigen Partner an. Von der Partie würde man auf den Straßen tagelang sprechen. Habt ihr gehört, Gerdi und Winni haben um einen Riesenpott gespielt, ja, wirklich! Und Winni hat gewonnen. Oder verloren. Egal, darauf kommt es nun gar nicht an. Natürlich könnte die Partie verloren gehen, es ist sogar wahrscheinlich. Das wäre dann tapfer wegzustecken, dem wäre man gewachsen. Und habt ihr das gehört? Winni hat ohne zu zucken bezahlt. Ja, der hat Format!
Um dreißig also. Abgemacht! Gleich kann’s losgehen. Nur eben schnell hoch und Marmeln nachholen. Bin gleich wieder da.
Im Laufschritt zur Haustür, rein ins Treppenhaus, hallo, ihr Stufen, da bin ich schon wieder, hab’ was tolles vor, eine Riesenpartie, muss jetzt im höchsten Tempo nach oben, klingeln, Mama, mach auf, muss schnell Marmeln holen, Gerdi spielt mit mir um dreißig, jawohl, staune nur, das wird ne spannende Sache, kannst mir Glück wünschen, und wenn ich doch verlier, ist’s nicht weiter schlimm. Jetzt nur schnell sein, Gerdi wartet unten auf mich – was für ein Tag!
Die Mutter schält Kartoffeln und schaut nur kurz auf. Sie hat ihre Sorgen, die er nicht kennen kann und ist heute unerreichbar für seine Begeisterung. „Nein, ich will nicht, dass Du das spielst.“ Ratscht, das Messer fährt durch eine Kartoffel, die Hälften plumpsen ins Wasser. Die Ablehnung ist endgültig.
Aus. Zerschnitten die Freude mit einem Satz. Der Schreck friert den Bauch ein, danach bohrt stille Verzweiflung. Und unten wartet Gerdi, oder nein: der ganze Frühling wartet auf Winfried. Er soll doch spielen, wagen und wachsen. Eine kleine senkrechte Falte zwischen den Augenbrauen setzt sich fest und will nicht mehr verschwinden.
Was nun zu Gerdi sagen? Das Treppenhaus fühlt Winfrieds geknickten Schritt, den zusammengezogenen Blick und kann ihn doch nicht aufhellen. Das einladend glänzende Geländer bleibt unbeachtet. Winfried beugt sich über die Brüstung und schaut durch den breiten Mittelspalt des Geländers in die Tiefe bis zum gefliesten Boden im Erdgeschoss. Ganz ruhig hält er den Kopf, holt tief Luft und nimmt Maß. Dann lässt er einen Klacks Spucke runtertropfen. Und wenn der schnurgerade fällt, nicht am Geländer hängen bleibt und vollständig unten ankommt, dann – er überlegt kurz die Wette – ja, dann wird er eines Tages der netten Silke vom Nebenhaus nahe sein können. Vielleicht schon vor dem Winter. Während die Spucke fällt, halten die alten Wände bereitwillig still. Wenn es nach ihnen geht, so soll es glücken. Und verpetzen werden sie ihn auch nicht.
Ein leises, aber deutlich vernehmbares „klatsch“ aus dem Parterre verkündet den Erfolg seines Wettspiels. Dann dreht Winfried sich um, klingelt ohne viel nachzudenken noch einmal an der Haustür, murmelt zur Mutter etwas von „Ball aus dem Zimmer holen“, stopft dort ganz still beide Hosentaschen mit Marmeln voll, hält sich den Ball vor den Bauch und verlässt rasch die Wohnung. Hängt seinen Arm über den Handlauf und startet eine gleichmäßige Rutschpartie bis zum ersten Treppenabsatz. Das Geländer spürt, dass er an Gewicht gewonnen hat seit der Abfahrt vorhin. Und das liegt nicht nur an den Marmeln in den Taschen. Wagen und wachsen. Gerdi, gleich kann’s losgehen!
Wolfgang Wunstorf, 2018