Barmbeker Erinnerungen von Peter Kipp
Meine Familie stammt nicht ursprünglich aus Barmbek, trotzdem habe ich hier meine frühe Kindheit verlebt. Die Großeltern kamen aus Danzig, sie mussten wegen der politischen Verhältnisse „optieren“, weil mein Großvater Beamter bei der Reichsbahn war. Entweder: für Polen oder Deutschland. Aus diesem Grunde kam die Familie mit vier Kindern, über Cuxhaven nach Hamburg und fand dann, etwa 1933, in Barmbek, Brucknerstraße 19, ihre neue Heimat. Das war an der Kreuzung Sentastraße / Brucknerstraße. Obwohl ja nach dem Krieg quadratkilometerweise nur Ruinen und Trümmerwüste herrschten, waren an unserer Kreuzung von den vier Blocks noch drei relativ unbeschädigt vorhanden, sodass hier noch eine mehr oder weniger geordnete Wohnsituation, zwar mit Einquartierungen, bestand.
An einer Ecke befand sich die Bäckerei Ponsel, gegenüber das Milchgeschäft von Herta Ross, daneben der Kolonialwarenladen von den Schwestern Reetwisch. Etwas weiter, in einer Holzbude vor der Schule, der Fischhändler Kluziak. An der nächsten Straßenecke der Feinkostladen von Strahl und gegenüber der Gemüseladen von Martens. Etwas weiter noch der Tabak- und Zeitschriftenkiosk von Rittmeister, dazwischen der Kohlenhändler Hohnsbein mit seinem bissigen Köter „Troll“, der frei herumlief und uns Kindern höllische Angst machte. Also eine fast dörfliche Lebenssituation – jeder kannte quasi jeden.
Meine Mutter, die jüngste der vier Geschwister, war 1939 zwanzig Jahre alt und hütete die Kinder der Familie Steffen in der Sentastraße ein. Mit ihrer Erscheinung und den blonden Haaren hatte sie bei den täglichen Einkäufen, die Aufmerksamkeit von Bäckermeister Hans Ponsel, erregt. Was sich in kleinen Aufmerksamkeiten, „wie ein Stückchen Kuchen mehr“, ausdrückte. Der Funke ist aber leider nicht übergesprungen.
Der schneidige Luftwaffenoffizier, der seine Schwester in der Sentastraße häufig besuchte, hat mit seiner Uniform mehr Aufsehen erregt, sodass 1941 eine Verehelichung stattfand. (Er natürlich in Uniform) Den Kriegsverhältnissen geschuldet, sind die Jungvermählten anschließend nach Schlesien auf einen Luftwaffenstützpunkt umgesiedelt, wo ich dann 1944 geboren wurde. Nach turbulenter Flucht (teilweise im Bombenflugzeug) zurück Richtung Hamburg sind wir dann im Mai 1945 bei meiner Oma in der Brucknerstraße untergekommen. Da auch die übrigen Geschwister und Schwiegerkinder aus dem Krieg zurückströmten ist es bei „Mama“ in der Brucknerstraße eng geworden. So sind meine Eltern und ich gegenüber in der Sentastraße bei Familie Steffen auf Zimmer gezogen.
Bäckermeister Ponsel war nicht nachtragend, obwohl sein „Schwarm“ jetzt mit Mann und Kind wieder aufgetaucht war. Er selbst hatte auch geheiratet und bekam eine Tochter namens Christel. Der gleiche Vorname wie der meiner Mutter!? Trotzdem bekam ich die Gunst, wenn ich zum Brot- oder Brötchenholen rübergeschickt wurde, dass immer eine kleine, extragebackene Heißwecke für mich bereitlag, obwohl noch Lebensmittelmarken nötig waren. Hans Ponsel lugte dann aus seiner Backstube und lächelte mir zu.
Der zentrale Spiel-Treffpukt für uns Kinder war die große Sandkiste neben dem Fußballplatz vom FC Paloma. Sie war rundherum mit Gehwegplatten befestigt, zwei Schaukelgerüste und drei Sitzbänke waren vorhanden. Sie war groß genug, dass mindestens 10 Kinder gleichzeitig ungestört spielen konnten. Höhepunkt war, wenn man nicht zum Mittagessen nach Hause gerufen wurde, sondern die Mutter mit Kartoffelsalat und Ei zur Sandkiste kam und man konnte auf der Bank, ohne große Spielunterbrechung, das Essen einnehmen. Im Gegensatz zu anderen Kindern, hat meine Mutter das aber nur ganz, ganz selten getan.
Gasanstalt, links Problock, rechts Schleidenschule,
vorn Sportplatz FC Paloma
Es war etwa 1948, da gab es eine Riesenenttäuschung: plötzlich war die Sandkiste leer! Während wir noch ratlos herumstanden, kam ein mächtiger englischer Militär-Lastwagen voll mit frischem, weißen, sauberen Spielsand und füllte die Kiste wieder auf. In wahrer Wonne stürzten wir uns in diesen Sand und merkten erst jetzt wie dreckig, unhygienisch und verschmutzt der alte Sand von all den verkohlten Brandresten und dem Trümmerstaub war.
Die andere wichtige Spielstätte war der Schleidenpark, heute Biedermanplatz, mit Planschbecken und Liegewiese. Auf den Gehwegen ließen sich wunderbar Wettfahrten mit unseren Rollern veranstalten. Der Park hatte sogar einen „Parkwächter“, der in einer kleinen Holzbude residierte. Er hatte alles im Blick und jeder Unfug am Planschbecken wurde streng mit „Parkverbot“ bestraft. Vandalismus oder Farbschmierereien, die gab es dank seiner Anwesenheit nicht.
Eine große Mutprobe gab es an der „kaputten Brücke“ der Straße Käthnerort über den Osterbekkanal. Die Brücke ist in den Bombennächten 1943 zerstört und die Straße unterbrochen worden. Unter der Brücke verlief ein dickes eisernes Rohr zur Gasversorgung der gegenüberliegenden Stadtteile. Die Brückentrümmer waren bereits abgeräumt worden, nur das restliche Gasrohr ragte noch aus dem Erdreich bis halb über den Osterbekkanal. Die Mutprobe bestand darin, sich rittlings auf das Rohr zu setzen und dann bis zum Ende vor zu robben. Man befand sich dann in drei Metern Höhe über der Kanalmitte. Jede leichte Körperbewegung brachte das Rohr aber in Schwingung, sodass am Rohrende eine erhebliche Auf-und-ab-Bewegung zu bestehen war. Das Ganze war natürlich strengstens verboten, von der Polizei und den Eltern sowieso.
Zum Thema Roller: mein Onkel Erich, auch in Barmbek wohnhaft, war damals einer der größten Fahrradgroßhändler in Hamburg. Da er aus dem Siegerland stammte, hatte er verschiedene Verbindungen zu den dortigen Fahrradfabriken. Er besaß sogar damals schon ein Auto – nicht so ein altes Vorkriegsgefährt, sondern einen fabrikneuen Opel-Olympia. Weil er selbst keine Kinder hatte, kam ich in den Genuss vielfältiger Geschenke. Das größte war natürlich der Roller mit Ballon-Reifen. Damals die neueste Erfindung und auch teuer, aber Onkel Erich saß ja an der Quelle. Ich wurde bewundert und war mit dem Roller die Sensation in der Sentastraße. Heute hört man oft den Begriff „Tretroller“ für die kleinen faltbaren City-Roller. Damals waren damit die Roller bezeichnet, die über dem Trittbrett noch ein bewegliches Wipp-Brett mit einer Zahnstange zum Antrieb des Hinterrades besaßen. Wir haben uns unzählige Wettfahrten um die Häuserblocks geliefert – aber ich, mit dem Ballon-Roller, war auch gegen größere Jungs, unschlagbar.


Meine Tante in der Sentastraße war Kriegerwitwe, hatte aber bereits 1947 wieder geheiratet und zwar einen Schneidermeister für Damen- und Herrenbekleidung. Er hatte seine Werkstatt mit Ladengeschäft drüben auf Neuhof und fuhr täglich mit dem Dampfer rüber. Seine Kunden waren Seeleute, die mit ihren Schiffen im Hafen lagen. Oft für zwei bis drei Wochen zum Löschen der Ladung. Da auch in der Handelsmarine früher noch Uniform getragen wurde, hatte er sein gutes Auskommen für deren neue Ausstattung. Durch Empfehlung hatte er auch einige Kunden in Barmbek, denn in der Wohnung gab es ein halbes Zimmer, was er zur Anprobe der Kunden nutzte. Einer dieser Kunden war Hans Apel aus Barmbek, der spätere Bundesfinanz- und Verteidigungsminister. Hans Apel war schon früh politisch aktiv und saß für die SPD in der hamburgischen Bürgerschaft. Für einen besonderen Staatsakt hat mein Onkel ihm seinen ersten Smoking geschneidert.
Die Wohnung meiner Tante war für damalige Zeit komfortabel: zur Sentastraße hin das Schlafzimmer mit einer gemütlichen Loggia und Morgensonne. Auf der anderen Seite gen Süden die Küche mit herrlichem Balkon und Blick auf den Sportplatz vom FC Paloma. Wenn am Sonntagnachmittag die 1. Herren spielten, hatte man einen formidablen, kostenlosen Logenplatz. Der Fußballplatz hatte damals noch keinen Rasenbelag, sondern „Grant“ und wenn Fußball gespielt wurde, war das bei trockenem Sommerwetter mit einer erheblichen Staubentwicklung verbunden, was die Hausfrauen in dem Block sehr verärgerte. Dieser Grant hatte aber auch eine positive Seite. Wir konnten stundenlang auf dem Platz hocken und die schönsten bunten oder glitzernden Steinchen herauspicken um sie zu sammeln, weil sie vermutlich sehr wertvoll waren. Später fanden wir heraus, dass dieser Grant lediglich geschredderter und gemahlener Trümmerschutt war.
Eines Tages geschah Ungeheuerliches: auf dem vierten Häuser-Block, der wie gesagt zerbombt war und nur noch aus Trümmerbergen und Mauer-Gerippen bestand, hatten zwei Jugendliche auf Altmetallsuche beim Klettern über die Schuttberge einen verschütteten Kellerzugang entdeckt. In einem der Kellerräume fanden sie ein ganzes Lager von Kästen mit Spielzeugbausteinen. Wir Kleineren hatten es erst bemerkt, als sich vor dem freigeräumten Kasematten-Fenster, eine Menschentraube bildete. Wir also auch dahin: es wurden dutzendweise diese Holzkästen herausgereicht und jeder, der einen Kasten ergatterte, lief schleunigst mit seiner Beute nach Haus. Diese Art Bauklötze kannte noch keiner – aber sie waren genial. Sie bestanden aus eingefärbtem Kunststein, ähnlich wie Speckstein. Sie hatten auf der Oberseite Noppen und auf der Unterseite entsprechende Mulden. Es gab sie als Quader in 1-er, 2-er, 3-er und 4-er Länge, in Säulenform und als Dachschrägen. Sie waren in Maß- und Winkelhaltigkeit so präzise hergestellt, dass sie ideal aufeinander passten ohne zu verrutschen. Das Prinzip ähnelte den späteren LEGO-Klemmbausteinen aber unsere hielten sich nur durch Schwerkraft. Wir hatten imposante Turmkonstruktionen bis über einen Meter Höhe gebaut, wenn sich mehrere von uns mit ihren Kästen zusammentaten. Leider ist mein Kasten im Laufe der Jahrzehnte verlorengegangen aber ich war so fasziniert von den Bausteinen, dass ich jahrelang danach Ausschau gehalten habe, leider vergeblich. Ich würde heute was drum geben, so einen Kasten wieder zu erwerben.
Wir spielten ja grundsätzlich „draußen“, denn ein Kinderzimmer hatte eigentlich keiner, sei denn er hatte noch 4 oder 5 Geschwister. Aber die Raumsituation in den Wohnungen war so prekär, dass dort einfach nicht gespielt werden konnte. Ich hatte auch einen Kameraden, der in den Nissenhütten in der Lohkoppelstraße wohnte, auch dort haben wir draußen gespielt. Aber wir, aus der Sentastraße, waren Fremdkörper dort. Vor der Bäckerei Ponsel war der Gehweg verbreitert, so dass eine entsprechende Spielfläche für „Hinkebock“, „Gummitwist“ oder „Kibbel-Kabbel“, für die Mädchen auch „Märchenball“ und „Meiersche Brücke“ bestand. Direkt dort stand auch so ein großer Feuermelder mit der Glasscheibe, die man einschlagen musste, wenn es brennt. Wenn es schummrig wurde, kamen auch die älteren Jugendlichen an die Ecke, es war ihr Sammelpunkt, sie alberten mit den Mädchen und standen herum: das waren die sogenannten „Eckensteher“.
Ein auffälliges Merkmal für Barmbek waren auch die riesigen Dampfwolken über der Gasanstalt zwischen Weidestraße und Osterbekstraße. Etwa alle Stunde wurde die ausgegaste, noch glühende Steinkohle aus den Kammeröfen ausgestoßen, in einen Kübelwaggon fallend, unter einem großen Löschturm, dann mit riesigen Wassermengen abgeschreckt, wodurch sich der enorme Dampfpilz bildete. Neben dem gewonnenen Leuchtgas war das Endprodukt dann Koks. Für uns Kinder war es unendlich interessant von der Brücke herab zu beobachten, wie die Kohlenschuten mit dem Nachschub über die Alster und den Osterbekkanal in den kleinen Werkhafen kamen. Mit langen Bootshaken wurden die Schuten dann per Hand so bugsiert, dass sie vom Greifer-Kran entladen werden konnten. Ein kleines Stück dieses Hafens ist noch heute zu sehen.
Eine eigenartige Erscheinung jener Zeit ist mir in Erinnerung geblieben: das waren die „Trampelpfade“ über die abgeräumten Trümmergrundstücke. Die Stadt Hamburg hatte schon frühzeitig nach dem Krieg mit der Beseitigung der Ruinen und Trümmerberge begonnen. Dadurch ergaben sich ungewohnte Sichtachsen, und man konnte in manche Richtung kilometerweit schauen. Von Barmbek aus waren gar die Kirchtürme in Innenstadt zu sehen. Weil alle Besorgungen ja zu Fuß gemacht wurden, konnte man sein Ziel schon von Weitem anvisieren und ging gerade darauf zu, also quasi „Luftlinie“. Deshalb benutzte man nicht mehr die Straßen und Gehwege sondern ging diagonal über die planierten Grundstücke. Und da es alle taten, entstanden diese Pfade. Obwohl im Laufe der Zeit schon meterhoch Unkraut hochwuchs, waren sie noch jahrelang zu sehen.
1951 wurde ich in der Schleidenschule eingeschult. Wir waren eine große Klasse mit über 30 Schülern, unser Lehrer war Herr M. Wenn Schüler schwatzten, hatte er die Angewohnheit mit seinem Schlüsselbund nach ihnen zu werfen. Eines Tages wurde in der Bank hinter mir laut getuschelt. Folge: Herr M. warf wieder mit seinem dicken Schlüsselbund und traf mich, als Unschuldigen, genau am Kopf. Sowas war damals halt ein Kollateral-Schaden, ohne Entschuldigung. Meine liebsten Spielkameraden waren jetzt auch meine Klassenkameraden. Reiner Heuer, Spatzi Koswig und Bernd von Paschkewitz, ich habe sie leider nicht wiedergesehen, weil ich mit den Eltern Ende 1951 nach Langenhorn, in eine Neubauwohnung mit Zentralheizung, umgezogen bin. Wenn sie noch leben, würde ich mich über ein Wiedersehen sehr freuen.
1. Schultag, Schleidenschule mit Reiner Heuer
Klasse 1, 1951 mit Lehrer M.