Barmbek Erinnerungen von Prof. Dr. Holger Knudsen
Eine Kindheit in der Mirowstraße 1950 bis 1960. Eine schöne Zeit, aber an die kalten Winter denke ich ungern zurück
Holger Knudsen mit Momo
vor der Haustür, 1952
Meine Eltern (beide Hamburger in der 5. Generation) wurden nach ihrer Heirat 1948 wegen der großen Wohnungsnot nach dem Krieg bei einem Ehepaar mit unzerstörter großer Wohnung in der Lenhartzstraße (Eppendorf) zwangseingewiesen und da habe ich die ersten Lebenswochen verbracht. 1950 bekamen wir eine Wohnung in der Mirowstraße 10, 4. Stock Mitte – die Stätte meiner Kindheit. In diesem Haus befanden sich bis zur Ausbombung auf jeder Etage zwei Wohnungen; nach dem Krieg wurden die Grundrisse verändert und innerhalb der erhaltenen Fassaden zur Wohnraumschaffung auf jeder Etage drei Wohnungen eingerichtet (vor einigen Jahren wurde alles wieder in den Originalzustand mit zwei Wohnungen pro Etage zurücksaniert). Das hatte zur Folge, dass wir einen großen Flur hatten (da standen die Schränke) und eine geräumige Küche (der Flur war mein Spielplatz, in der Küche habe ich die Schularbeiten erledigt), stattdessen aber nur zwei winzige Zimmerchen, die als Wohn- und Schlafzimmer dienten und eine sehr kleine fensterlose Nasszelle mit Dusche und Toilette. Aber Kinder nehmen die Dinge, wie sie sind, als „normal“ wahr. Während die Enge für meine Eltern ziemlich qualvoll gewesen sein muss, hat sie mich nicht gestört. Ich hatte mir immer ein Geschwisterchen gewünscht, aber trotz der auf der Fensterbank ausgelegten Zuckerstücke „für den Storch“ (die auch immer „abgeholt“ wurden) hat es sich nie eingestellt: meine Eltern wollten sich wegen der Enge kein weiteres Kind leisten. Deshalb war auch mein zweiter Wunsch, ein Hund, nicht erfüllbar. Ich durfte stattdessen einen Hamster haben. Hamster sind nachtaktive Tiere, ich habe aber, natürlich unwissend, immer tagsüber ziemlich intensiv mit ihnen gespielt. Ich tue Abbitte bei Putzi, Nicki und Hansi, die dadurch vielleicht vorzeitig in den Hamsterhimmel gekommen sind. Dazu im Kontrast steht aber, dass ich am Alter von neun Jahren mit Zustimmung meiner Eltern von Ilona, der etwas älteren Nachbarstochter mit den hinreißenden langen Zöpfen, als Mitglied des Hamburger Tierschutzvereins geworben wurde. So bin ich also seit mehr als sechzig Jahren Mitglied, war aber nie aktiv.
Holger Knudsen mit Nicki, 1959
Mein Vater war kaufmännischer Angestellter mit Arbeitsplatz am Ballindamm (bis zur Einstellung des Linienverkehrs im Jahr 1984 fuhr er mit dem Alsterdampfer ab Saarlandstraße hin und wieder zurück); meine Mutter war Fremdsprachenkorrespondentin mit Arbeitsplatz bei einem Tee-Makler in der Speicherstadt. Während meiner Kindheit war sie (wie es damals vielfach üblich war) zwölf Jahre lang Nur-Hausfrau. Später hat sie dann wieder in ihrem erlernten Beruf gearbeitet.
Ich wurde geboren am 3. Mai 1949. Ich hatte mir Zeit gelassen (wie es durchaus meinem Charakter entspricht) und meine Geburt war mehr als überfällig. Wäre ich bis zum 30. April geboren worden, dann hätte man mich als einen der jüngsten Schüler eingeschult; durch die späte Geburt hat sich meine unbeschwerte Kindheit um ein Jahr verlängert und ich war fast sieben, als ich zur Schule kam. So war ich immer der älteste in der Klasse. Ich habe schon häufig darüber nachgedacht: wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich ein Jahr früher eingeschult worden wäre? Aber da ich ziemlich viel Glück im Leben hatte und häufig im richtigen Moment am richtigen Platz war, gehe ich jedenfalls davon aus, dass es privat und beruflich nicht viel besser hätte laufen können.
Ich habe meiner Mutter gerne beim Waschen zugesehen. Für die Häuser in der Mirowstraße gab es eine große Waschküche mit einem großen runden Waschbottich in der Mitte. Das Wasser wurde erhitzt, Waschmittel hinzugegeben, die Wäsche lange mit einem Knüppel umgerührt und gewalkt, dann zur Fleckentfernung über das Waschbrett gezogen und schließlich, nass und schwer, mit dem Waschkorb über sechs Stockwerke zum Trockenboden befördert. Sklavenarbeit! Da ist es gut verständlich, warum meine Mutter sich so sehr über ihre erste Waschmaschine freute.
Die magischen und endlosen Sommer waren schön. Da es aus den geburtenstarken Nachkriegsjahrgängen viele Kinder gab, fand man immer jemand zum Mitspielen. Ich hatte einen schönen Tretroller mit Ballonreifen, wir haben Verstecken gespielt, „Mutter und Kind“, Hüpfspiele, mit Ball und Springtau, die „Meiersche Brücke“ (ich hatte die Regeln vergessen, jetzt aber gesehen, dass es im Internet eine schöne Beschreibung gibt) und andere Spiele, deren Namen ich vergessen habe. Dann gab es noch das Marmeln mit dem Ziel, am Ende mehr Kugeln als zu Spielbeginn zu haben. Es gab Tonkugeln („Pi-Marmeln“), kleine Glaskugeln und große Glaskugeln. Fünf Tonmarmeln waren so viel wert wie eine kleine Glasmarmel und zehn so viel wie eine große. Zur Aufbewahrung hatte jedes Kind einen „Marmelbeutel“. Es wurde nie langweilig. Im Sommer war der Hinterhof ein idealer Spielplatz. Es gab aber ein Problem: den Sheriff! (für lange Zeit mein einziges englisches Wort). Während Konflikte unter den Erwachsenen so diskret behandelt wurde, dass wir Kinder davon nichts mitbekamen, war der Hausmeister stets zur Stelle, wenn nach seiner Meinung irgendwo Unordnung herrschte. Seine Lieblingsopfer waren die Kinder im Hof. Ich hatte Angst vor ihm. Der Sheriff war wohl, wie sein berühmter Landsmann Budnikowsky, nach dem ersten Weltkrieg in Deutschland hängengeblieben.
Holger Knudsen, Aufnahme
vom Wanderfotographen, 1954
Die Mirowstraße war Spielstraße, denn es gab nur ein Auto. Ein Nachbar war Vertreter und er hatte einen damals schon betagten Mercedes mit sehr breiten Trittbrettern. Er war kinderlos und es brachte ihm Freude, uns etwas auf den Trittbrettern (gut festhalten!) mitfahren zu lassen. Ich erinnere mich besonders an eine Fahrt, ganz langsam, zweimal um den Block. Glücklicherweise ist nie etwas passiert. Später hatte er dann einen Borgward (Isabella). Autos waren so selten, dass ich mich noch an den nächsten Wagen erinnere: der Ford Taunus (der mit der Weltkugel über dem Kühlergrill) von Frau Aue, der stellvertretenden Direktorin der Volksschule in der Schleidenstraße. Eine Sensation! So ein großes Auto! Der nächste Wagen in meiner Erinnerung war schon etwas bescheidener: der Lloyd Alexander von Junglehrer Krüger. Naja, wer den Tod nicht scheut, fährt Lloyd, wer den Tod noch lieber hat, fährt Goliath. In der ehemaligen Volksschule in der Schleidenstraße ist jetzt das Arbeitsgericht Barmbek untergebracht und im dritten Stock wurde ein kleines und sehr sehenswertes Schulmuseum eingerichtet. Da tauchen die eben genannten Protagonisten wieder auf.
Meine Eltern waren brave Kirchensteuerzahler, aber überhaupt nicht religiös. Sie hatten nichts dagegen, dass ich regelmäßig zur Kinderstunde bei Diakonisse Schwester Gertrud im Gemeindehaus ging. Das hat auch deshalb Spaß gemacht, weil es da nicht nur Kinder aus der näheren Umgebung gab.
Die Winter waren anders, viel kälter als heute. Mein Vater musste dann immer Kohlen und Briketts mit der Schütte vier Stockwerke hoch aus dem Keller holen, damit es morgens einigermaßen warm war. Aber richtig angenehm wurde es selten. An den Fenstern gab es dicke Eisblumen und wenn man rausschauen wollte, dann musste man lange mit warmem Atem ein kleines Loch in das Eis pusten. Insbesondere vor dem Einschlafen musste man lange strampeln, bis das Bett ein wenig warm wurde. Denn das Schlafzimmer war nicht beheizbar. Daran denke ich sehr ungern zurück. Die Kohlen wurden im Herbst angeliefert, genau wie die Kartoffeln. Der Bauer ging von Tür zu Tür und nahm die Bestellungen entgegen. Wenn die Kartoffeln geliefert wurden (am Anfang mit Pferdwagen, später mit einem Treckergespann) war das ein großer Spaß. Die größeren Jungs durften oben auf den Kartoffelsäcken ein Stück mitfahren und beim Ausladen helfen. Für die Lagerung gab es eine Miete in jedem Keller. Das musste für den Winter reichen. Es wurden damals viel mehr Kartoffeln gegessen als heute. In jedem Hausflur stand eine Tonne für die Kartoffelschalen und Bauer Eggers holte sie als Schweinefutter einmal in der Woche mit seinem Dreirad („Goliath“) ab. Der Osterbekkanal war fast immer zugefroren und man konnte prima „glitschen“ und Schlitten fahren. Es hat auch Spaß gemacht, Schneemänner zu bauen. Kohlenstücke für die Augen bekam man immer, aber die Mütter rückten die Karotte (in Hamburg damals „Wurzel“ genannt) für die Nase ungern raus. Das war die Generation, die ganz große Probleme mit dem Zweckentfremden von Essbarem hatte. Meistens musste ein Zweig helfen.
Mit Marion, Michael (links) und Dagmar im Hinterhof,
ohne den Sheriff. 1955
Im Winter spielte ich gern mit meiner elektrischen Eisenbahn. Beide Lokomotiven und die Schienen waren neu, aber die Wagen hatten meine Eltern gebraucht gekauft. Damals hat mich das sehr betrübt, aber heute haben diese alten Wagen aus Blech einen beträchtlichen Sammlerwert. Ich habe sie noch.
Ich war an kalten Tagen gern drin und solange ich nicht lesen konnte, hörte ich viel Radio. Das konnte ich schon früh bedienen. Wir hatten ein Röhrengerät von Philips „Super Merkur“ für Mittelwelle, Kurzwelle, Langwelle. Ein riesiger Kasten, so groß, dass ich als sehr kleines Kind dachte, kleine Männchen darin würden das Programm machen. Mit einigermaßen Qualität war nur der Sender Hamburg (es gab nur ein Programm) des NWDR auf der Mittelwelle zu empfangen. Dazu musste aber der Knopf für das „magische Auge“ sehr sorgfältig gedreht werden. Ich hörte gern die Märchenstunde mit Eduard Marks (eine unvergesslich sonore Stimme, die es jetzt auch wieder im Internet zu hören gibt), den Kinderfunk (vor allem „Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv“) und auch schon den Schulfunk, bevor ich zu Schule kam (insbesondere „Neues aus Waldhagen“, eine Art didaktische Radio-Novela für Kinder, jetzt auch im Internet). Ich spielte gern mit dem Zeiger und die unverständlichen Stimmen aus fernen Ländern und der Weite des Äthers haben eine große Faszination auf mich ausgeübt. Die Lieblingssendung meiner Mutter war „17 und 4“. Sonntags gab es die „Schönen Stimmen“ und das „Hafenkonzert“. Diese Sendestunden waren für meinen Vater reserviert. Aber das machte nichts, weil ich zu der Zeit ohnehin in die Heiligengeistkirche in den Kindergottesdienst bei Pastor Gleß oder Pastor Ottmer und Diakon Ferlau ging. Nach dem Mittagessen durfte ich sonntags zur Kindervorstellung ins Roxy oder Scala (beide Fuhlsbüttler Straße) oder Bali (zwischen Hamburger Straße und U-Bahn Dehnhaide) gehen. Der Einheitspreis betrug 50 Pfennig. Im Sommer bekam ich für das Freibad Dulsberg zusätzlich zum Eintrittspreis 20 Pfennig oder „zwei Groschen“. Dafür konnte man vier Salinos, 20 „Liebesperlen“ oder vier Tüten Ahoi-Brausepulver kaufen.
Eine frühe Erinnerung hängt mit dem Radio zusammen: die Ungarnkrise 1956. Die Erwachsenen waren sehr besorgt und es war die Rede von „Krieg“. Ich hatte keine Ahnung, was das sein könnte, aber mein Eindruck war jedenfalls, dass dieses sehr abstrakte Ereignis etwas sehr Unangenehmes sein müsste.
Einen Fernseher bekamen wir erst 1965, und so war das Radio unser Fenster in die Welt. Meine Tante aus Ohlstedt hatte schon Mitte der fünfziger Jahre einen Fernseher, ein großer Kasten mit kleinem Bildschirm. Um ihn zum Laufen zu bringen, musste man in einen an der Rückwand angebrachten Behälter zwei Mark einwerfen und dann lief das Programm für einige Zeit und musste dann durch weiteren Geldeinwurf reaktiviert werden. Ab und zu kam der Händler und leerte den Geldbehälter, bis das Gerät abbezahlt war. Da sonst niemand einen Fernseher hatte, war es bei Familienfesten ein Vergnügen, reihum zwei Mark auszugeben, um fernsehen zu können. Da kam einiges zusammen. Ein Telefon hatten wir nicht und auch sonst niemand im Haus. Wer telefonieren wollte, musste zum „Öffentlichen Fernsprecher“ im Postamt am Flachsland gehen, natürlich nur während der Öffnungszeiten. Telefonzellen gab es am Bahnhof Barmbek und am Bahnhof Dehnhaide, aber man konnte nie sicher sein, dass sie funktionieren.
Meine Eltern hatten das „Hamburger Abendblatt“ abonniert (damals noch eine echte Abendzeitung) und mein Vater, sonst sehr friedlich, konnte ungehalten werden, wenn er in unserer engen Wohnung nach der Arbeit nicht gemütlich in seinem Sessel seine Zeitung lesen konnte. Ich hatte sonst ziemlich viele Freiheiten und nur, ab einem gewissen Alter, zwei Pflichten. Den Müll zum „Ascheimer“ bringen und einzukaufen (damals in Hamburg „Einholen“ genannt). Um vom Haus 10 zum Ascheimerkeller im Haus 16 zu kommen, gab es zwei Möglichkeiten: entweder auf der Straße am Block entlang oder durch den Keller. Auf der Straße bestand die reale Gefahr, mit dem Mülleimer in der Hand zum Spott der „halbstarken“ Jugendlichen zu werden, in den völlig verwinkelten, unübersichtlichen, nur mit kurzem Minutenlicht sehr schlecht beleuchteten und recht gruseligen Kellergängen hatte ich Angst vor irrealen Gefahren. Da das Fehlen von Selbstbewusstsein bei mir noch größer als die Angst war, habe ich mich meistens für den Gang durch den Keller entschieden. Aber das ist keine schöne Kindheitserinnerung.
Und noch eine unangenehme Kindheitserinnerung: Spinat und Lebertran („du willst doch groß und stark werden“), aus einer in der Apotheke abgefüllten und wenig kindgerechten braunen Glasflasche. Spinat esse ich bis heute nicht.
Angenehmer war das Einkaufen beim Krämer Strahl, Brucknerstraße/Ecke Käthnerort. Das war kein Tante-Emma-Laden, sondern ein ziemlich großes Geschäft mit mehreren Mitarbeitern. Man gab die Bestellung auf und wurde über den Tresen (hamburgisch „Tonbank“) bedient. Beim Rausgehen gab es einen Bonbon für jedes Kind. Mit dem Aufkommen der Supermärkte konnte Familie Strahl mit den vorhandenen Baulichkeiten den neuen Zeiten leider nichts entgegensetzen das war ein schleichender Prozess. Durch das gleichzeitige Kinosterben wurden plötzlich große Hallen frei: perfekt geeignet für die neuartigen Supermärkte. Wirklich schade, das waren überaus korrekte Geschäftsleute, die auch mal anschrieben, wenn am Monatsende das Geld knapp war. Milchprodukte wurden bei Meesen im Käthnerort gekauft (nicht abgepackt, sondern mit der Milchpumpe in die Milchkanne), Fisch bei Kluziak in der Fuhlsbüttler Straße, sonntags gab es sehr leckeren Kuchen, das Stück für 30 Pfennig, von der Konditorei Ponsel in der Brucknerstraße.
Für größere Einkäufe ging es in die Fuhlsbüttler Straße („Fuhle“) und ich erinnere mich an ein ganz besonderes Großereignis: die Eröffnung des Plastikkaufhauses! Alles aus Plastik, sogar die Blumen („sieht echt aus, muss aus Plastik sein“). Nicht billig, aber so fühlte man sich als Teil einer neuen Zeit. Es war ein echter Hype! Die Schuhe, die ich gelegentlich neu brauchte, wurden auf meinen Wunsch hin bei Salamander in der Fuhle gekauft. Denn nur dort gab es die Hefte von „Lurchi und seine Freunde“ und auf die war ich sehr scharf. Bei Salamander gab es ein Gerät, angeblich ungefährlich, mit dem die Füße durchleuchtet werden konnten. Man sah dann auf dem Bildschirm die eigenen Fußknochen (oder die des Kindes) und den Umriss der Schuhe. Das war bei der Kaufentscheidung nützlich, aber es hat sicher seinen Grund, dass es diese Geräte nicht mehr gibt. (Meine klein gewordenen Schuhe und Kleidungsstücke, soweit gut erhalten, gingen an eine Schulfreundin meiner Mutter, die elf Kinder hatte).
Manchmal ging ich mit meiner Mutter ins Zentrum „in die Stadt“. Um Geld für die Fahrkarte zu sparen, liefen wir oft auf dem Hinweg zu Fuß, aber dafür gab es dann leckeren Fisch bei Daniel Wischer in der Spitalerstraße. Erst viel später ist mir bewusst geworden, wie sehr und wo meine Mutter gespart haben muss, um das finanzieren zu können. Zurück fuhren wir entweder mit der Ringbahn oder mit der Straßenbahn, Linien 6 oder 9. Ich fuhr besonders gerne mit den ganz alten U-Bahnen aus der Vorkriegszeit, denn mit etwas Glück konnte man den Schaffnerplatz neben der Fahrerkabine ergattern und nach vorne ausgucken wenn meine Mutter ins Ortsamt musste, wollte ich sie immer begleiten. Denn da konnte man mit dem Paternoster fahren und den Grusel der Extra-Durchfahrt durch den Keller oder über den Dachboden für einen kurzen Moment genießen.
Meine Eltern waren aktiv im Wanderverein „Die Naturfreunde“ (da hatten sie sich kennengelernt) und sehr, sehr selten, wenn wir etwas müde zurückkamen, spendierte mein Vater ein Essen bei Koch’s Mittagstisch am Barmbeker Bahnhof. Frivoler Luxus! Bedienung am Tisch! Weißgekleidete Kellner! Unvergesslich!
Zum Thema Fahrkarte: die Verkehre der U-Bahn und der S-Bahn waren bis zur Schaffung des HVV völlig getrennt. Fahrkarten konnten nur am Schalter gekauft werden und da konnte es schon mal eine lange Schlange geben (in der Straßenbahn erfolgte der Kauf beim mitfahrenden Schaffner). Bei der S-Bahn wurden die Fahrkarten vor dem Aufgang zum Bahnsteig entwertet. Im Barmbeker Bahnhof wurde das von Kriegsversehrten ohne Arme oder Hände erledigt, die dafür eine eigens eingerichtete Kabine hatten. Man legte die Fahrkarte in eine Fassung und sie bedienten die Entwerterzange dann mit einem Fußhebel. Das hat mich immer sehr verwirrt (aber auch fasziniert), genauso wie die Kriegsblinden, die im Hauptbahnhof mit Hilfe von riesigen Folianten in Blindenschrift Fahrplanauskünfte gaben. In der Spitalerstraße (damals viel befahrene Verkehrsachse) sah man noch Jahre nach dem Krieg sommers wie winters einen Kriegsblinden, der Bürsten verkaufte. Ich hatte mir immer vorgestellt, mit meinem ersparten Taschengeld bei ihm einmal als Geburtstagsgeschenk für meine Oma eine kleine Bürste zu kaufen. Aber als ich vor ihm stand, war ich beklommen und zu schüchtern, ihn anzusprechen. Und irgendwann war er nicht mehr da.
Schulhof Schleidenstraße. Mit Fräulein Martens, 1956
Mit dem Schulbeginn änderte sich alles. Bei Fräulein Martens lernte ich schnell Lesen und Schreiben, mit dem Rechnen ging es nicht so schnell. Fräulein Martens war gelernte Schneiderin, nach dem Krieg wurde sie angesichts der vielen gefallenen Lehrer zur Volksschullehrerin ausgebildet. Das hat dem Unterricht aber nicht geschadet, ganz im Gegenteil. Das Schulgebäude Schleidenstraße war noch teilweise zerstört und in dem verbleibenden Raum mussten alle Kinder aus der Gegend irgendwie untergebracht werden. Das führte zu Schichtunterricht und Klassenstärken von 35 Kindern pro Klasse (nur „Knaben“). In der Parallelklasse bei Fräulein Narbe, der schönen Junglehrerin und Schwarm aller Kinder, waren auch 35 Schüler. Sie hat dann bald den Lehrer Krüger (der mit dem Lloyd Alexander) geheiratet. Ich fand schnell neue Freunde und neue Hobbies. Da ich sehr bald gut lesen konnte, war ich Dauergast in der damals gerade neu eröffneten Bücherhalle in der Poppenhusenstraße. Es gab einen Leporello aus Pappe und da konnte man die Bücher eintragen, die man gelesen hatte. Es war mein Ehrgeiz, viel zu lesen und die Leporellos schnell (und immer ehrlich) zu füllen. Das ist mir dreimal gelungen. Einen Preis gab es nicht, aber ein großes Lob für den fleißigen Leser von den freundlichen Bibliothekarinnen.
In der zweiten Klasse hatten wir für einige Wochen einen Mitschüler, dessen Eltern als Schausteller davon lebten, Schimpansen in Käfigen auszustellen. Um ihrem Sohn, der sich ja permanent an neue Schulen gewöhnen musste, das Einleben etwas zu erleichtern, konnten alle jeweiligen Klassenkameraden immer kostenlos die Affen (ausgestellt auf einem planierten Ruinenfeld neben dem Barmbeker Bahnhof) besichtigen. Das war spannend, aber auch ein unendlich trauriges Elend. Auch im Abstand von so vielen Jahren frage ich mich: wer hat mehr Mitleid verdient, die Schausteller oder die Affen?
Der Mirowstraße gegenüber lag das Gymnasium Uhlenhorst-Barmbek und auf dem Schulhof konnte man mit dem Einverständnis des freundlichen Hausmeisters, Herrn Möller, prima Fußball spielen. Er war ein Dribbelkünstler, manchmal zeigte er für eine kurze Zeit seine Tricks. Es gab häufiger mal lautstarke Auseinandersetzungen zur Regelauslegung, aber eine Sache wurde strikt beachtet: der Eckenelfer! Pro drei Ecken gab es einen Elfmeter. Da der verfügbare Platz eher klein war, kam das ziemlich häufig vor. Mit steigendem Wohlstand hatten die ersten Mitspieler „richtige“ Fußballschuhe mit Stollen. Der Schuhwechsel wurde vor aller Augen angeberisch, bewusst langsam und sehr gravitätisch zelebriert. Durch diese „Wettbewerbsverzerrung“ auf dem Platz litt die Kameradschaft sehr. Da mein Talent für Fußball ohnehin sehr begrenzt war, verabschiedete ich mich irgendwann von dieser Truppe und aus der Welt des Fußballs.
Am Käthnerort standen noch zwei Ruinen. Es machte trotz strengstem Verbot viel Spaß, „Hausabreißen“ auf diesem unwiderstehlichen „Abenteuerspielplatz“ zu spielen. Niemand hat „gepetzt“ und alle hielten gegenseitig dicht – meine Mutter (not amused) hätte von diesen Aktivitäten nie erfahren, wenn mir nicht ein Ziegelstein auf einen Finger gefallen wäre. Der Finger musste operiert werden und die Narbe sieht man heute noch. Ich hatte, damals acht Jahre alt, allerdings gehofft, dass der Finger amputiert werden müsste. Denn dann, so glaubte ich, würden bestimmt alle denken, dass ich ein Pirat wäre. Heute sehe ich das etwas anders und bin froh, dass ich dank der Kunst der Ärzte den Finger noch habe.
Da wir keinen Fernseher hatten (er hätte in die kleine Wohnung auch nicht wirklich gepasst) ging ich gern zu meinen Großeltern in die Jarrestadt. Die hatten schon ein UKW-Radio und einen kleinen Schwarzweiß-Fernseher. Meine Lieblingssendung zum Schluss war „Einer Wird Gewinnen – EWG“ mit Hans-Joachim „Kuli“ Kulenkampff und mit deutschsprachigen Kandidaten aus vielen Ländern. Diese Sendung ließ ich nie aus. Es gab unter den Teilnehmern fast immer eine nette junge Französin oder Italienerin mit charmantem Akzent, und solche Teilnehmerinnen gefielen mir immer besonders gut (dem galanten Kuli übrigens auch). Mein Opa nahm mich am 1. Mai immer mit zur Maifeier der Gewerkschaften auf der Stadtparkwiese. Es ist unvergesslich, wie die riesigen Marschsäulen mit zehntausenden von Teilnehmern aus den verschiedenen Stadtteilen dort aufmarschierten, kein Vergleich mit heute.
Ich hatte etwas Angst vor solchen Menschenmassen, aber ich wusste, das mich mein Opa trotz seiner Kriegsverletzungen aus dem ersten Weltkrieg immer schützen würde.
Es gab auch noch Großeltern in Pinneberg. Die lebten dort in einem Behelfsheim, nachdem sie 1943 in Eimsbüttel ausgebombt wurden. Sie hielten einige Hühner und ich durfte bei unseren Besuchen die Hühner füttern und die frischen Eier aus den Nestern holen. Die Reise nach Pinneberg war damals eine kleine Weltreise im Dampfzug mit alten Abteilwagen. Die furchteinflößenden und mehr als mannshohen Stahlräder der Lokomotiven haben mich sehr beeindruckt. Man sah, auch am Barmbeker Bahnhof bei den Zugdurchfahrten auf der Güterumgehungsbahn, die Lokomotivführer und Heizer immer aus der Lokomotive schauen, so dass ich dachte, dass das Mitfahren und Rausgucken ihr Beruf wäre. Eine so schöne und entspannte Tätigkeit hätte ich mir auch für mich sehr gut vorstellen können. Wie die Lokomotive zum Laufen gebracht wurde, darüber hatte ich mir keine Gedanken gemacht.
Beide Großelternpaare sprachen miteinander und untereinander Hamburger Platt; mit den Kindern und Enkeln wurde aber ziemlich konsequent nur Hochdeutsch (mit einem Anflug von „Missingsch“) gesprochen. Das entsprach der damaliges herrschenden Auffassung, dass die Nachkommen es nur als Sprecher des Hochdeutschen „einmal im Leben besser haben können“. Nur vom Zuhören bei den Gesprächen der Großeltern habe ich Platt ein wenig gelernt. So kommt es, dass ich plattdeutsche Texte gut lesen kann und auch (fast) alles Gesprochene verstehe, beispielsweise im Ohnsorg-Theater oder bei den plattdeutschen Aufführungen der Amateurbühnen im Theater in der Marschnerstraße, die ich nach Möglichkeit nicht versäume. Meine Sprechkompetenz ist dagegen leider sehr beschränkt, da ich nie Gelegenheit hatte, mit den Großeltern Platt zu sprechen – das wurde sofort von allen Vieren abgeblockt. Wirklich sehr, sehr schade und nach dem Wissen von heute ein ganz großes Versäumnis. Aber es gibt ja leider wegen der eben skizzierten Sprachentwicklung auch kaum noch Gelegenheiten, das Plattschnacken zu praktizieren. Das zeigt exemplarisch das Schicksal kleinerer regionaler Minderheitensprachen: über ihren Fortbestand und ihr Überleben wird nicht an fremden Kabinettstischen entschieden, sondern ausschließlich im Rahmen der Familie am Küchentisch.
Mit meinem besten Schulfreund Manfred Lange, den ich nach dem Übergang aufs Gymnasium leider aus den Augen verloren habe, machte ich viele Radtouren und wir halfen dabei, mit etwas älteren Jugendlichen eine schöne große Radrennbahn aus Lehm und Sand am Mesterkamp zu bauen. Das war eine sehr schöne Freundschaft in den letzten drei Jahren der Kindheit. Wir waren praktisch jeden Tag mit unseren Rädern auf der Rennbahn. Später wurde dort der Bus-Betriebshof der HHA errichtet. Unser Lieblingsziel war aber der Barmbeker Stichkanal, um dort beim Entladen der Schuten für das Gaswerk zuzuschauen. Das war eine sehr schöne Freundschaft in den letzten drei Jahren der Kindheit.
Etwas, das mir zum Schluss noch einfällt: der je nach Empfinden penetrante oder angenehme Kaffeeduft, der (nach meiner Erinnerung alle 14 Tage) über Barmbek-Süd waberte, wenn bei Walter Messmer geröstet wurde. Ich habe Ihn nach so vielen Jahren irgendwie immer noch in der Nase.
1960 ist das Jahr, in dem meine Kindheit endete und, historisch betrachtet, unsere ganz persönliche Nachkriegszeit auch. Wir zogen nach all den Jahren um in eine größere Neubauwohnung in Barmbek (endlich mit Badewanne, Balkon, Kühlschrank, Waschmaschine, Zentralheizung, Einbauküche, Telefon, Musiktruhe – und einem eigenen Zimmer für mich!) um die sich meine Eltern lange bei der Genossenschaft bemüht hatten. Mein Vater bekam sein erstes Auto (ein VW-Käfer mit Vase am Armaturenbrett) und meine Mutter bekam ihre lang entbehrte elektrische Nähmaschine. Dafür gab es ja jetzt genügend Platz. Ich kam aufs Gymnasium (nur für Jungen, die Ko-Edukation wurde in Hamburg erst recht spät eingeführt) und hatte bald neue Freunde und neue Interessen. Wir machten unsere erste Auslandsreise mit dem Auto nach Dänemark und ich lernte dort schwimmen und Mundharmonika spielen.
Damit endet dieser Bericht, denn das wäre schon der Anfang für ein neues Kapitel.
Zu den beigefügten Fotos:
Mein Vater hatte schon seit den 1930er Jahren eine Kamera, hielt sich aber mit dem Fotografieren sehr zurück. Denn Filme und Filmentwicklung waren sehr teuer – da musste man sich bei jedem Motiv entscheiden und jede Aufnahme ganz genau überlegen. Das Foto von 1954 stammt von einem Wanderfotografen. Die waren damals recht zahlreich und versuchten auf diese Weise, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Es wurden alle greifbaren Kinder fotografiert und etwas größere Kinder halfen dann gegen eine kleine Belöhnung beim Herausfinden der Adressen. Dann gingen die Fotografen von Tür zu Tür und boten die Kinderbilder den jeweiligen Eltern an. Das war (ähnlich wie bei den gelegentlichen Besuchen des laut seine Dienste anbietenden Scherenschleifers) ein sehr mühseliger Versuch, in der Nachkriegszeit etwas Geld zu verdienen. (Jedenfalls besser als die Tätigkeit des Drehorgelspielers, der regelmäßig in die Mirowstraße kam. Er hatte ein dressiertes bekleidetes Rhesusäffchen an einer dünnen Kette, das die aus den Fenstern geworfenen Münzen aufsammelte. Kein schöner Anblick! Meine Mutter, sonst immer gerne hilfsbereit, hat es immer abgelehnt, ihm etwas zu geben). Ich finde, dass der Wanderfotograf gut gearbeitet hat (das Original ist im Format DIN A 5). Etwas besser und wirtschaftlich gesicherter ging es den Schulfotografen. Die vereinbarten mit der Schulleitung die Fototermine, so dass sich alle darauf einstellen konnten. Die Datenschutzreligion hatte damals für Gruppenfotos glücklicherweise überhaupt noch keine Jünger*innen.
Prof. Dr. Holger Knudsen, São Paulo/Hamburg, November 2023