Barmbek Erinnerungen von Kai Krause
In den Jahren nach dem Kriege war es aufgrund der großen Wohnungsnot in Hamburg den Schrebergärtnern von behördlicher Seite erlaubt, in ihrem Garten die vorhandene Laube für Wohnzwecke zu erweitern bzw. ein kleines Wohnhaus zu bauen. Mein Stiefvater entschied sich zu Letzterem.
Ort des Geschehens: Kleingartenverein „Am Grenzbach e.V.“ in der Dieselstraße, Parzelle 21. Vaddern begann damit 1949, selbstverständlich nach einem langen Arbeitstag und am Sonntag. Muttern verbrachte trostlose 3 Jahre in einer Lungenheilstätte in Wintermoor, wurde morgens mit dem Liegestuhl in die Sonne geschoben und abends wieder hereingeholt, das war die ganze Therapie für TBC-Kranke. Sie hat’s überlebt, die meisten ihrer Bettnachbarn sind gestorben.
Ich – 6 Jahre alt – war bei diesem Versuch der hamburger Bürger, den Schutt der Bomben wegzuräumen und neu aufzubauen, quasi das 5 Rad am Wagen und total überflüssig. So verbrachte ich meine Kindheit bei verschiedenen Verwandten und zuletzt im Kinderheim Neugraben, wo ich auch zur Schule kam.
Am Sonnabend Nachmittag ging ich dort zum Bahnhof, fuhr mit der Bahn bis HH-Hauptbahnhof, von da mit der Straßenbahn bis Hellbrookstraße, und die restlichen 15 Minuten zu Fuß zur Dieselstraße. Dort war Vaddern schon am Werken und wartete auf mich. Mit der hölzernen Schiebkarre und einem Maurerhammer ausgerüstet zog ich los, auf die andere Straßenseite, in die Trümmer.
Die Dieselstraße ist vom Schlicksweg bis zum Elligersweg ca. 500 Meter lang, links die Schrebergärten, rechts stand vor dem Krieg eine ebenfalls fast 500 Meter lange Reihe von drei- bis viergeschossigen Wohnhäusern. Vom Erzählen der Nachbarn weiß ich, dass englische Flieger mit Brandbomben diese ganze Häuserzeile mitsamt den Bewohnern platt gemacht haben. Stehengeblieben ist nur der u-förmige Ziegelbau am Ende zwischen Dieselstraße und Oertzweg.
Diese Trümmer waren nun mein Arbeitsfeld. Meine Aufgabe war es, alte Mauersteine vom Putz zu befreien, auf die Schiebkarre zu laden und zum Neubau zu fahren. Ja, lieber Leser, Du hast recht: es gibt keinen Maurerhammer für sechsjährige Kinder, es gab damals auch keine Arbeitshandschuhe für Kinder. Meine Hände waren zerschunden, Muskeln und Knochen taten weh, und trotzdem hat’s Spaß gemacht! Ich bin am Sonntag Abend glücklich und zufrieden nach Neugraben zurückgefahren. Vaddern hat sich über jeden Stein gefreut, den ich ihm sauber abgeklopft brachte, den er nicht kaufen mußte; ich weiß noch, dass ich über’s Wochenende an die 100 Steine geschafft habe. Pro Stein habe ich 1 (in Worten: einen) Pfennig bekommen. Ein neuer Kalksandstein kostete damals 7 Pfennig, soviel wie ein Brötchen. Es war mein Taschengeld für die ganze Woche. Andere Kinder hatten gar kein Taschengeld.
1951 kam Muttern aus der Klinik, das Häuschen war fertig und wir zogen zusammen mit meiner Tante ein. Die Wände waren noch nicht verputzt, roher Zementfußboden, aber Fenster und Türen waren drin, jedes der 3 kleinen Zimmer hatte einen Ofen, und letztlich war auch noch Geld übrig für Holz und Kohlen.
Ein paar Jahre später wurde nach und nach auch die gegenüberliegende Häuserzeile wieder aufgebaut. Nun waren nicht mehr die Trümmer, sondern die Baugerüste unser Spielplatz. Mein Elternhaus wurde nach dem Tod meiner Mutter im Jahre 2001 als eines der letzten verbliebenen Wohnhäuser in dieser Gartenkolonie abgerissen. Parzelle 21 ist nun wieder ein ganz normaler Schrebergarten.
Kay Krause 30. November 2016
Roller-Geschichten
Dat wär woll 1951, kann ok 52 sien.
Ick wär wedder mit mien Luxusroller ünnerwegens as jeden Nomiddach, wull mien Oma inne Humboldtstroot besöken.
Eers den Schlicksweg lang, und denn säh‘ ick all dat Mallör op de grote Krüzung Habichtstroot – Steilshoperstroot: een olen „Tempo“ Dreerad-Lieferwogen stunn man blots noch op de twee Achterbeen, datt Vorderbeen wär em wechknickt, harr woll Athrose, oder sowatt. Ick kann ju vertellen: datt säh man bannich unglücklich ut. Ober datt beste wär: de hett Eier oploden hatt! Nu wär de ganze Krüzung vull mit Röhreiers, und ’n poor Eiers wärn ok noch ganz, und de Lüüd kääm mit Tüten und Taschen und sammelt in, watt noch to bruken wär.
Na ja, ick hebb mi datt ’n Tiedlang mit ankeken und bin denn wiederfohrt, de Steilshoper Stroot lang und denn rechts inne Hellbrookstroot, noch’n poor hunnert Meters und denn wär links anne Eck vonne Schwalbenstroot een groten freien Platz, schrääch gegenöber vonne Post. Op düssen Platz stunn nu een Wogen, weest, so’n Wogen as de Lüüd von Zirkus hebbt, för de Viecher, för all de Utensilien, und ok to’n Wohnen mit de Artisten und de Familie. Twee Meter föftich breet, acht oder neegn Meter lang, mit’n Dachwölbung und Flügldöörn an beide Sieden. De een Flügldöör stunn op, door wär een Mann bien Rumpütschern, und ick kunn in den Wogen rinkieken. Glieks achter de Döör wär op’n Boden een Stüerrad montiert, dor achter stunn een Stohl. Inne Mitt von den Wogen wär een Wand. Anne Front ’ne Trepp to’n op- und doolklappen.
De Mann wär dorbi, anne föftein Klappstöhl in den Wogen in Reih und Glied optostelln. Ick frooch em, wat dat war’n sall, und he vertellt mi, datt he Film-Theoter mookt för Kinners. Und nu säh ick ok een Leinwand an de Mittelwand, und he wär dorbi, een lütten Projektor mit Handkurbel optostelln. Ick froch em, watt datt kost, und he seggt: „Zwanzig Pfennig, mein Jung'“. Ick segg to em, datt ick ober keen twintich Penn gor nich hebb. Door kümmt he de Trepp dool, leggt mi de Hann op de Schuller und seggt: „Denn fohrst du nu mit dien Roller gau no Huus und seggst dien Modder, sei sall mi ’n poor belegte Brote moken, und denn kümmst wedder her und kannst di den Film ankieken“. Ick bün afsuust as’n Rakete. As ick wedder öber de Krüzung Habichtstroot kumm, wär de Füerwehr all dorbi, den ganzen Eiermatsch in’n Gulli to speueln. De Fisch inne Alster ward sick wunnert hebben öber dat nahrhaftige Fudder.
Een Abschleppwogen nähm dat kranke Dreerad all huckepack, ober ick harr keen Tied too’n Kieken.
To Huus hebb ick Moddern de ganze Geschicht vertellt. Se hett veer Schieben Brot afsneeden, Margarine opsmeert, Wurst und Kääs good oppackt, tosomklappt, in Pergamentpapier inpackt, und ick bün wedder tröchsuust. De Mann hett sick bedankt und ick döff mi een Stünn lang ole Filme ankiecken, swatt-witte Stummfilme mit Buster Keaton und Dick und Doof. As de Filmkiekerei to Enn wär, hett de fründliche Mann mi noch sien ganzes lüttes Riek wiest. In dat achtere Stück von den Wogen leeft he mit sien Fru und twee lütte Kinners, op tein Quadratmeters. Ober dat wär allns gemütlich und harr Hann und Foot: inne een Eck ’n lütten Ofen too’n Heizen un Kooken, anne Sied ’n Klappsofa för de Öllern too’n Sloopen, inne anner Eck ’n lütt Etagenbett för de Kinners. Inne Mitt wär grood noch Platz för’n lütten Tisch und twee Stöhl. Und datt hett he sick allns sölben utdacht un sölben tosombastelt!
Und dat beste wär: ünner den Boden, glieks neben de achterliche Achse, hett he een olen Volkswogen-Motor montiert, de hett der Achterräders antreben. De harr ober blots een Gang. Wenn he nun von een frei’n Platz to den nächsten dörch Hamborg ünnerwegens wär, denn mokt he de Flügldöörn vorn op, sett sick op sien Stohl achter dat Stüerrad, kuppelt in und fohrt mit veeruntwintich PS un fief Kilometers inne Stünn dörch den Verkehr. Man blots: Verkehr gääv dat eben dormols noch nich! Süh, und watt datt in de dormolige Tied för een Abenteuer wär, datt kannst doran sehn, datt ick datt nich vergeeten hebb. Nu stell di mol för, du geihst hüt no de Kinokass mit dien Deern, leggst ’n Botterbrotpaket op’n Tresen und seggst to de schnieke Lady op de anner Siet: „Twee mol letzte Reihe bitte!“ Kann woll good angohn, datt se di afholt und ünnersöken lot von een Fachmann.
Kay Krause 09. Dezember 2016
Barmbeker Jung und der Jazz
Das Barmbeker Leben findet zwar – zugegeben – in Barmbek statt, doch das bedeutet nun noch lange nicht, dass jeder Barmbeker Jung‘, jede Barmbeker Deern auch den Rest des Lebens in Barmbek zu verbringen hat, quasi bis zum bitteren Ende. Ohne dass ich mir damals dessen bewußt wurde, gab es doch einen Anlass, der dafür sorgte, dass ich mich mehr für die große weite Welt interessierte. Mein gleichaltriger Lehrkollege Ernst Hänsgen schleppte mich nach Feierabend an einem Donnerstag zur Freilichtbühne im Hamburger Stadtpark. Bisher hatte ich mich sehr für klassische Musik interessiert,jedoch dieses hier erste erlebte Jazzkonzert hat mich derart begeistert, dass mein Freund und Kollege Ernst zukünftig nicht mehr alleine dorthin gehen mußte. Donnerstags war einfach Jazz angesagt. Es war eine wunderbare Atmosphäre: man lauschte der Life-Musik, unterhielt sich aber nebenbei auch zwanglos und trank sein Alsterwasser. Hier und da wurde zwischen den Bänken auch ein Tänzchen gewagt.
Eines Donnerstags war „Papa Bues Viking Jazzband“ angesagt. Hatte ich noch nie gehört. Allein der kleine „Papa Bue“, ca. 1,60 Meter dänischer Nationalstolz, war mit seiner Posaune schon sehenswert.
Er muß damals um die 30 Jahre alt gewesen sein und galt in Jazzmusiker-Kreisen bereits alt „alter Mann“, daher die Bezeichnung „Papa“, so wurde mir erklärt. Ich durfte für 50 Pfennig Eintrittgeld 2 Stunden Jazzmusik vom Allerfeinsten genießen, war mir damals aber nicht darüber im Klaren, dass ich eine Legende erleben durfte. Nach meiner Lehrzeit wurde ich Monteuer im Kraftwerksbereich und installierte 10 Jahre lang Wärmetauscher in fast allen bundesdeutschen Kraftwerks-Neubauten. Irgendwann blieb ich dabei in Bayern hängen und verbrachte in Neuburg an der Donau ebenfalls fast 30 Jahre meines Lebens. Hier entdeckte ich einen kleinen, aber feinen Jazz-Club, welcher nach mehrjähriger Pause gerade wiederbelebt und durch seine Konzerte mit Spitzenmusikern schnell im Umkreis bekannt wurde. 1991 konnte der Club den Gewölbekeller der alten Hofapotheke für sich gewinnen, und ich durfte bei der Renovierung und dem Umbau zum Jazz-Keller dabei sein. Inzwischen ist dieser Jazz-Club mit seiner einmaligen Räumlichkeit einer der beliebtesten in Deutschland geworden, und das gilt auch für die auftretenden Musiker. Eines Samstag-Abends große Überraschung: wer steht auf der Bühne? Mein großer Freund Papa Bue mit seiner Viking Jazz-Band! Ein Wiedersehen nach über 30 Jahren. In der Pause tranken wir zusammen am Tresen ein Bier, und er erinnerte sich noch gut an den Auftritt im Hamburger Stadtpark. Es war ein unvergesslicher Abend, und diesesmal war ich mir durchaus bewußt, mit einer Jazz-Legende „Skal“ sagen zu dürfen.
Aber nun, lieber Leser, ist die Geschichte ja noch nicht fertig erzählt. Ein paar Jahre später unternahmen meine Ewa und ich eine Motorradtour über Mecklenburg, Rügen, setzten mit der Fähre über nach Bornholm, und fuhren von dort nach Kopenhagen, um uns ein paar Tage bei der Kusine meiner Frau schadlos zu halten. Nun waren wir schon einmal in Kopenhagen, und wenn man ein paar Tage Zeit hat, dann gehört ein Besuch des „Tivoli“ einfach dazu. Während wir also zusammen durch diesen wirklich schönen und interessanten Amüsierpark pilgerten, klangen plötzlich von Ferne Jazz-Klänge in mein geschultes Ohr. Ohne darüber zu diskutieren schlugen wir die Richtung ein, aus der diese Musik kam. Wer steht auf der Bühne: mein großer (kleiner) Freund Papa Bue, inzwischen über 70 Jahre alt, mit seiner weltberühmten Viking Jazz-Band, und er blies nach wie vor alle seine vorhandene Atemluft in die Posaune, um ihr wunderschöne weiche Klänge zu entlocken. In einer Pause hatten wir wiederum einen netten Small-Talk, und er konnte sich wohl nicht mehr an mich, aber doch noch an den Auftritt im historischen Jazz-Keller in Neuburg erinnern. Es war wieder ein unvergesslicher Abend! Anno 2011 hat Papa Bue uns Freunde der Jazzmusik im Alter von 81 Jahren verlassen. Ich habe alle Alben von ihm, und er wird immer einen Platz in meinem Herzen behalten.
Und dieses erzähle ich dem Forum der Barmbeker Geschichtenwerkstatt, weil ein Barmbeker eben nicht alle seine Abenteuer nur in Barmbek erleben kann. Manchmal muß man auch äber den Tellerrand hinausschauen, und auch wenn ich heute in Polen lebe, so bleibe ich doch ein „Barmbeker Jung“ !
Kay Krause am 12. März 2017