Schriftzug Geschichtswerkstatt Barmbek in weißen Buchstaben vor einer roten Backsteinmauer

Barmbek Erinnerungen von Hermann Schulz

Meine Jugendjahre in Barmbek

Es sind wohl mehr oder weniger prominente Leute, die an ihrem Lebensabend ihre Memoiren schreiben. Ich kann mich keinesfalls zu ihnen zählen. Wenn ich trotzdem mit 74 Jahren meinen Lebensweg schildere, so weniger weil er besonders sensationell verlief, sondern weil meine Söhne meine gelegentlichen Erzählungen immerhin so interessant fanden, dass sie meinten, sie seien einer Aufzeichnung wert.
Wie für alle meine Altersgenossen des Jahrgangs 1900 waren die vergangenen 73 Jahre auch für mich interessant, aufregend und ereignisreich im Vergleich zu den fast eintönigen Lebensläufen meiner Vorfahren. (…)

 

Als ich 5 Jahre alt war, gaben meine Eltern die Terrassenwohnung in der Gärtnerstraße auf und zogen nach Barmbek in eine im vierten Stock gelegene Zweizimmerwohnung des neugebauten Wohnblocks der „Produktion“. Hier wohnten wir in der Ortrudstraße Nr. 37 bis zu meinem 28. Lebensjahr – also 23 Jahre. Derzeit lag der Wohnblock fast an der Grenze Nordbarmbeks und war von drei Seiten von Wiesen umgeben. Diese Wiesen, die Parkanlage Schleidenplatz (heute Biedermannplatz) und der damalige „Redder“ (heutiger Stadtpark) waren im Gegensatz zu der baumlosen Terrasse in der Gärtnerstraße ein wahres Eldorado zum Austoben für uns Kinder, abgesehen von dem Spielplatz mit Turngeräten innerhalb des quadratischen Wohnblocks. Man konnte in den ersten Jahren von unserem Balkon aus bis zum Barmbeker Bahnhof und bis zur Volksschule Lohkoppelstraße sehen. Erst später wurde das freie Gelände dazwischen mit Wohnhäusern bebaut.
Verständlicherweise war ich wegen der vielen neuen Spielmöglichkeiten begeistert von diesem Wohnungswechsel. Weniger mein Vater, der bis dahin als Stellmacher in der Werkstatt der Hamburger Straßenbahn am Falkenried tätig war und per Fahrrad nun einen einen sehr viel weiteren Weg hatte. Er wechselte bald darauf die Arbeitsstätte und war alsdann in verschiedenen Branchen der Holzverarbeitung – als Fenster- und Türenbauer, Anschläger, Mühlenbauer und Möbeltischer – tätig. (…)

 

Gruppenfoto mit über 20 Kindern vor Ziegelwand, einige schauen ernst

 

Meine Mutter, mehr als mein Vater auf Gelderwerb bedacht, wünschte oft, dass er sich selbständig machen sollte, wozu ihm aber der Mut fehlte, insbesondere wohl deshalb, weil das erforderliche Kapital dazu nicht vorhanden war. Um diesem Mangel zu begegnen, nahm meine Mutter nach meiner Einschulung eine „Morgenstelle“ als Putzfrau in der Villa eines Weinagenten und später in gleicher Eigenschaft im „Haerlein-Stift“ an der Alster an. Von nun an wuchs ich als „Schlüsselkind“ auf. Ich musste selbst darauf achten, dass ich morgens rechtzeitig zur Schule kam und mir nach meiner Rückkehr das vorbereitete Essen warm machen. Neben den obligatorischen Schularbeiten hatte ich dann noch bestimmte Hausarbeiten zu verrichten. Dazu gehörte das Herauftragen von Kohlen und Kartoffeln von unserem Keller auf den vierten Stock, das Putzen der Messingteile an unserem Küchenherd, das Reinigen der Schuhe vom vorigen Tag sowie das „Einholen“ – also die Besorgung von Lebensmitteln nach einem Einkaufszettel. (…)

 

Großer Festsaal mit vielen Kindern an langen, gedeckten Tafeln

 

Unter diesen Umständen wuchs ich auf und entwickelte mich – zu oft auf mich allein gestellt – zum „Barmbeker Brieten“, der keinen Streichen und Raufereien aus dem Weg ging. (…)

 

Es fanden oft Schlägereien zwischen den Jungens verschiedener Straßenzüge statt, wie sie schon in dem 1967 erschienenen Buch „Barmbek – vom Dorf zur Großstadt“ in den Kapiteln „Barmbek-Uhlenhorster Grenzkampf“ und „Barmbeker Jugend – einst wie heute“ anschaulich beschrieben wurden. Ergänzend kann ich noch berichten, dass auf diesem Gebiet wir Jungens aus dem Wohnblock der „Produktion“ besonders angefeindet wurden. Wir galten als besonders rote „Sozis“, weil der Gebäudekomplex fast nur von Sozialdemokraten bewohnt wurde. Wir duldeten keine „Fremden“ auf dem im Innern des viereckigen Wohnblocks befindlichen Spielplatz, auf dem sich außer zwei Sandkisten auch Kletterstangen und ein Reck befanden. Um unsere „Burg“ zu erobern, rotteten sich die „Fremden“ oft zusammen. Wenn es uns gelang, sie in die Flucht zu jagen, zogen wir anschließend – zum Beispiel – mit dem Ruf „Sentastroot (Sentastraße) hätt een Morsfull kregen – rou, rou, rou“ unsere Stöcke und Latten schwingend durch deren Straße, bis ein „Udl“ (Schutzmann) uns auseinanderscheuchte. Dabei waren diese „Waffen“ nicht ganz ungefährlich, weil an deren Enden oft Nägel oder mit einem Stein beschwerte Töpfe befestigt waren. Hierbei möchte ich erwähnen, dass derzeit unser späterer Senator und Bürgerschaftspräsident Adolph Schönfelder auf dem Saal des Wohnblocks „Produktion“, das von dem Lokal „Mause“ bewirtschaftet wurde, als relativ junger Mann seine ersten Reden hielt. Mein gleichaltriger Vater als ständiger Besucher dieser Versammlungen meinte jedenfalls, Schönfelder hätte sich hier im Redehalten geübt. Vorausgreifend – weil bezeichnend für das frühere, rauhe, politische Klima in Barmbek – sei hier noch eingefügt, dass bei dem Aufstand der Kommunisten 1923 die Polizeiwache am Barmbeker Markt als erste in Hamburg von ihnen erstürmt und bis zuletzt verteidigt wurde.
Für uns Volksschüler waren die Realschüler der Osterbekstraße – erkennbar an ihren derzeit traditionell rot-schwarz-gestreiften Sweaters – ein rotes Tuch. Sobald sie in unsere Nähe kamen, und das war auf deren Schulweg fast täglich der Fall, wurden sie von uns angerempelt und sofern sie reagierten auch tätlich angegriffen. Zu unserer Ehre muss ich allerdings sagen, dass wir darauf achteten, dass die Streithähne den Kampf unter sich austragen mussten. Obgleich in der Überzahl mischten wir uns auch nicht ein, wenn einer der unsrigen dabei unterlag – gemäß unserem Motto: „Twee op eenen is feige“ (Zwei auf einen ist unfair).

 

Historisches Postkartenbild eines großen Jugendstilgebäudes in Hamburg-Barmbek

 

Der „Redder“ (heutiger Stadtpark) war in seinem damaligen Zustand ein ideales Gelände für unser Kriegsspiel „Insche (Indianer)“ und „Trapper“, ein bei den Jungens beliebtes Spiel, wobei die Mädchen als Krankenschwestern fungierten. Die Bäume und Sträucher boten sich direkt an, um sich als Indianer an den Feind – die Trapper – heranschleichen zu können und sie mit Pfeil und Bogen oder dem Tomahawk zu bekämpfen. Den Abschluss bildete dann ein Freudenfeuer, um das wir herumtanzten und sangen. Die Melodie und den vollständigen Text des Indianerliedes, das mit den Worten: „Tsching – tschang – gulla – gulla – gulla“ begann, habe ich noch heute im Gedächtnis. Hin und wieder muss ich dieses Lied jetzt noch meinen vier Enkelkindern vorsingen.

 

Hermann Schulz

Barmbek Erinnerungen von Hermann Schulz