Schriftzug Geschichtswerkstatt Barmbek in weißen Buchstaben vor einer roten Backsteinmauer

Barmbek Erinnerungen von Angelika Fassauer

‘n echten Barmbeker Briet - was ich mal werden will

Eigentlich fing es alles sehr gut an: Meine Mutter hatte Urlaub und wir gingen zu C& A. In die ‚Hamburger Straße‘. Da stand es ziemlich einsam als einziges stehengebliebenes Haus. Mitten auf einer Wiese und eingekeilt von den zwei Fahrbahnen der langen Hamburger Straße. Ein ziemlich quadratischer Klotz aus rotem Backstein. Zwei Etagen, und in der oberen Etage war die Kinderbekleidung. Nachdem ich etliche Kleidchen anprobiert hatte, war meine Mutter endlich zufrieden: gelb mit weißen Rüschchen und einer Schleife auf dem Rücken. Nur für ‚gute Anlässe‘. Und dann kam die Begegnung, von der meine Mutter noch Jahre später erzählte: eine Dame kam auf uns zu, streichelte mir über das Haar und meinte: „Ach, das sieht aber niedlich aus!“

 

Kind mit Locken steht draußen und hält einen Stock im Mund, unscharfes Bild

Wenn ich gross bin

 

Auf dem Nachhauseweg flüsterte meine Mutter ehrfurchtsvoll: „Weißt Du wer das war? Das war Ida Ehre. Eine ganz berühmte Schauspielerin. Nein, also dass die auch bei ‚Brenningmeyer‘ einkauft!“ Dazu muß man wissen, dass die ‚einfachen Leute‘ zu ‚C& A‘, und die ‚feineren Leute‘ zu ‚Brenningmeyer‘ gingen. Es war der gleiche Laden, klang aber gleich ganz anders!
Meine kurzen Beinchen waren zwar etwas müde als wir wieder im Langenrehm ankamen, aber es war erstens noch fast eine Stunde bis zum Mittagessen und außerdem waren Wolfgang, Sabine und Ute draußen. „Mutti, darf ich?“ Das war ein Wagnis, denn wir wollten gleich nach dem Essen zur Freundin meiner Mutter fahren und deshalb blieb ich noch ‚hübsch gemacht‘. „Sei aber vorsichtig, mach keine Flecken in das Kleid …“ und noch mehr Ermahnungen musste ich über mich ergehen lassen, bevor ich ‘runter durfte.“Was spielt ihr g‘rade?“ „Himmel und Hölle, aber das ist langweilig“ . Wie so oft fanden unsere Füße von ganz alleine zu dem einzigen Gebäude, das noch im Haferkamp stand. Ein ehemals weißer Flachbau mit einer Einfahrt hinter der sich kleine Werkstätten verbargen. Rechts von der Einfahrt war das Gebäude halb abgerundet. Geheimnisvoll und immer interessant. Vor allen Dingen weil es dort wohl einen Glaser (oder etwas ähnliches) gab. Jedenfalls lagen da oft kleine Verpackungsreste aus ganz leichtem Kunststoff auf dem Hof und damit konnte man herrlich an dem einzigen Fenster, das es an der Straßenseite gab, hin- und herreiben und dann quietschte es richtig ekelhaft. Und wenn dann auf dem Innenhof die Tür aufging, hatte man noch genügend Zeit zum weglaufen.
Weglaufen, stolpern, hinfallen, Kleid dreckig. Mensch, was hab‘ ich geheult. Die Wohnungstür war natürlich schon auf und meine Mutter stand dort mit entsetztem Gesicht in der Tür als ich endlich in der ersten Etage ankam. Für heute war da nichts mehr zu retten. Meine Mutter schlecht gelaunt und ich völlig zerknirscht, so machten wir uns auf den Weg zur Straßenbahn um nach Billbrook zu fahren. Dort hatte die Freundin meiner Mutter ein Haus in einer Schrebergartensiedlung und einen Sohn, Peter. Mit dem konnte man prima und verbotener Weise an und in dem kleinen Bächlein am Ende des Gartens spielen. Da gab es allerlei Getier und Schlamm bis zu den Knien. Das war toll! Fast so toll wie der Weg, den ich manchmal mit Oma und Opa ging. Die wohnten noch hinter dem Barmbeker Krankenhaus, im Prechtsweg. Von dort gingen wir oft zu Fuß zum Ohlsdorfer Friedhof. Aber da gab es nur nach Regengüssen große Pfützen mit Fröschen. Die Strecke hieß ‚schwarzer Weg‘ und so war er auch: Alles schwarze Erde und auf einer Seite eine hohe Hecke. Aber prima zum Frösche fangen … und zum Radfahren lernen! 

 

Mädchen mit Puppenwagen winkt, große Wohnhäuser und Rasenfläche im Hintergrund

Beim Anleger des Alsterdampfers in der
Hufnerstraße 1959/60

 

Zwei Kinder spielen draußen, eines sitzt nachdenklich, das andere zeigt ein Buch
Drosselstraße mit Blickrichtung
Bramfelder Straße/Alter Teichweg 1955

 

Auf dem Rückweg bekam ich manchmal aus dem kleinen Krämerladen, den es nur ein kurzes Stück vom Bramfelder See entfernt gab, ein kleines quadratisches Eis am Stiel. Die Meisen und die Eichhörnchen auf dem Friedhof, die verschiedenen bunten Enten auf dem See und ich, wir waren nach solchen Ausflügen bestimmt alle satt und zufrieden. „Wie seht ihr denn wieder aus!!??“ Schuh und Strümpfe aus, alles abgespült und dann mussten Peter und ich brav am Tisch sitzen bleiben. Zum Abschied gingen wir alle in den runden Bunker, der auf dem Gelände stand und jetzt als Aufbewahrungsort für das viele Eingemachte diente. In der Erinnerung sehe ich nur noch einen sehr schmalen, halbrunden Gang mit Regalen voller Gläser vor mir. Das war ein bischen unheimlich und ich war froh, als wir mit einigen Obstgläsern wieder in der Straßenbahn saßen.

Der nächste Tag war ein Sonntag und das war immer etwas langweilig. Die meisten Kinder mussten mit zu Besuchen und deshalb waren zu wenige unten, um ‚dritten Abschlag‘, ‚Fischer, Fischer wie tief ist das Wasser‘ oder andere Abzählreime zu spielen. Es blieb also nur ‚Geschichtenball‘, ‚Gummitwist‘ oder …. oder eine Inspektion des Grundstücks schräg gegenüber, an der Ecke Gerstenkamp / Langenrehm. Aber das war verboten. Da gab es nämlich Bauschutt und viele Kuhlen. Es war ein Trümmergrundstück und mit Stacheldraht eingezäunt. Der Einzige, der manchmal am Rand darauf durfte, war der Plakatkleber, der an der Außenwand des kleinen Werkstadthofs die großen Flächen beklebte. Meistens war das Zigarettenwerbung von Golddollar und Juno.

 

Frau mit Kind vor Trümmerhaufen, Junge fährt auf Tretroller vorbei

Blick auf den Daniel-Bartels-Hof
um 1950

 

Also, mal sehen ob man es ohne Schaden über den Stacheldraht schafft. Naja, so schlimm war das gar nicht. Aber es dauerte nicht lange bis irgendjemand rief: „Was macht ihr denn da? Wollt ihr da mal ‘runterkommen! Da dürft ihr nicht ‘rauf, das ist gefährlich!!“ Schnell weglaufen, hinfallen und den Fuß verstauchen. So schnell wie ich das alles geschafft habe war das wohl einmalig. Heulen gilt nicht. Und so biss ich die Zähne zusammen bis ich endlich – mit Hilfe von den Udo und Sabine – in der Wohnung angekommen war.
Als meine Mutter mit dem Schimpfen und Wehklagen fast fertig war, klingelten auch schon meine Großeltern an der Wohnungstür. Oma hatte den selbst gebackenen Kuchen und Opa die Glasschüssel mit der lose gekauften Schlagsahne in den Händen. „Ne,“ sagte mein Opa “ das ist nur verstaucht, nichts gebrochen. Fuß hochlegen und kalte Umschläge damit er abschwillt. In einer Woche ist er wieder wie neu. „Eine ganze Woche? Oh man, oh man.“
Immerhin blieb Opa bei mir sitzen während Mutti und Oma später in der Küche den Abwasch machten.
„Opa, warum sind da drüben so viel Schutt und so viele Löcher?“ „Da sind im Krieg Bomben gefallen und haben das Haus, das dort vorher stand, kaputt gemacht. Deshalb ist es dort auch so gefährlich. Es kann sein, dass es dort Bomben gibt, die nicht explodiert sind und wenn da ein kleiner Fuß drauf tritt, dann ist er nicht nur verstaucht, sondern ganz ab!“ „So wie bei dem Mann am Bahnhof?“ Unter der Brücke am Barmbeker Bahnhof saß nämlich oft ein Mann, der nur ein Bein hatte und dort auf einer ‚singenden Säge‘ spielte. Das klang fürchterlich schaurig und ich hatte großen Respekt vor ihm. Wir gingen oft in Richtung Bahnhof, zu dem Pferdeschlachter oder nebenan zu Faerber um Fische zu kaufen. „Ja, genau. Der hat sein Bein im Krieg verloren.“ „Ist Dir im Krieg auch ‘was schlimmes passiert, Opa? Was war das Schlimmste, was Dir passiert ist?“ Mein Großvater seufzte: „Ach Kind, das Schlimmste was ich erlebt habe ist anderen passiert.“ „Und was war das?“ „Ich weiß gar nicht ob ich Dir das erzählen soll? Doch, vielleicht ist das ganz gut so. Also: wir waren mit einer Gruppe Soldaten unterwegs Richtung Osten und haben auf viele Menschen aufgepasst: Sie wurden von uns bewacht und mussten vor uns her gehen. Es waren alles Juden. Ganz normale Menschen, die nur etwas anderes glaubten als die meisten von uns. Dann ließ unser Hauptmann den ganzen Trupp stoppen, die Juden bekamen Spaten und sie mussten eine riesige Grube ausheben. Danach sollten sie sich am Rand aufstellen und wir sollten sie erschießen. Die Grube sollte ihr Grab werden.“ Es vergingen einige Sekunden, die mir sehr lang vorkamen. „Ich habe aber nicht geschossen. Ich habe mich geweigert und es meinem Hauptmann auch gesagt.“ „Und die anderen Soldaten?“ „Die haben sich nicht geweigert.“ „Und dann?“

 

Zwei Männer räumen Schutt vor zerstörtem Haus mit Schubkarre und Hacke weg
Bauarbeiten der Baugenossenschaft Hansa,
1950er Jahre

 

Meine Mutter und Oma unterbrachen das Gespräch: „Also wirklich. Musst Du Deiner kleinen Enkelin etwas so grausames erzählen? Sie ist doch noch ein Kind!“ Und zu mir gewandt sagte Oma: „Opa hat Glück gehabt, dass ihn ein sehr guter Freund zum Bunkerbau angefordert hat. Sonst würde es ihn heute auch nicht mehr geben.“ „Ach was,“ sagte Opa, „zu Anfang ging das noch, aber es hätten sich mehr weigern müssen. Viel mehr!“
Ich lag jetzt ziemlich eingeschüchtert auf dem Sofa und deshalb sagte Opa wohl zum aufmuntern: „Aber vielleicht darf dieser kleine Wildfang ja am Sonnabend mit zu Stahlbock!?“ Stahlbock, das war die kleine Kneipe an der Ecke Langenrehm / Gerstenkamp. Die hatten einen Fernseher und da wurde manchmal ‚in kleiner Runde‘ Ohnsorg Theater oder Fußball geguckt. Wenn es ‚Ohnsorg‘ gab, dann schimpfte meine Oma immer auf dem kurzen Weg bis zur Ecke, weil der ‘Komödienstadel‘ auf Bayrisch gesendet wurde und das ‚Ohnsorg‘ extra für‘s Fernsehen auf hochdeutsch spielen musste. Plattdeutsch war nun mal eine ‚ausländische Sprache‘ und Bayrisch nur eine Mundart! Aber Oma hatte Probleme mit dem Hochdeutschen, besonders mit dem ‚mir‘ und ‚mich‘. Im Plattdeutschen gab es für beides ja nur das ‚mi‘. Aber sie sagte immer: „Besser ‚mir‘ und ‚mich‘ verwechseln, als ‚mein‘ und ‚dein‘!“ Und damit hatte sie vollkommen recht!
Naja, aber bis Sonnabend waren es ja noch einige langweilige Tage ….
Am nächsten Tag musste meine Mutter wieder zur Arbeit. Ich wurde wieder auf das Sofa gelegt, mit einem Kissen und kalten Wickeln unter und um den geschundenen Fuß. Auf dem Tisch davor lagen Kinderbücher, belegte Brote, eine Wasserflasche und ein Apfel. Mit diversen Ermahnungen und guten Worten wurde ich alleine gelassen. Allerdings dauerte es nicht lange, bis sich ein Schlüssel in der Haustür drehte: Oma. Sie wollte noch mal ‘nach dem Rechten sehen‘ bevor sie in die Stadt fuhr. Und ich konnte nicht mit! Was Oma in der Stadt kaufen wollte, das wurde nicht verraten. Aber dass sie dieses Mal mit der Bahn fahren würde, das sagte sie mir. Das war wenigstens ein kleiner Trost, denn wenn sie wie üblich mit dem Alsterdampfer gefahren wäre, dann hätte ich bestimmt meinen Fuß vergessen und wäre mitgegangen.
Der Alsterdampfer war genauso teuer und genauso schnell am Jungfernstieg wie die Bahn, aber die Fahrt war wie Urlaub! Und der Anleger war ja nicht weit: Flachsland durch, an der klitzekleinen Post auf der rechten Seite vorbei, über die Brücke und am Anfang der Hufnerstraße, da wo es so schön nach Kaffee roch, da war der Anleger. An der Ecke gegenüber war die Behörde, zu der meine Mutter manchmal musste und die fand ich toll. Die hatten einen Paternoster mit dem man immer im Kreis fahren konnte. Aber das durfte ich nicht!
Oma tröstete mich ein bischen, rückte alles auf dem Tisch hin und her und ließ mich wieder alleine.
Ich ‚döste‘ etwas ein und träumte vom Winter. Wenn es kalt genug war und schön Schnee lag, dann ging Opa mit mir und dem Schlitten in den Eilbekpark. Es gab dort eine abschüssige Wiese, die eine fantastische Rutschbahn war. Nur leider floss an ihrem unteren Ende die Eilbek. Und auch wenn sie zugefroren war, bestand die Gefahr, dass man mit dem Schlitten dort einbrach und sich im eiskalten Wasser eine Erkältung holte. Die Lösung? Na klar: Opa. Der stellte sich unten hin und fing nicht nur mich, sondern auch alle anderen Kinder auf, bevor jemand im Bach landete. Unermüdlich!
Oma war schnell wieder zurück und ich wurde wach als die Wohnungstür aufging. „Vom Winter träumen? Das kommt ganz bestimmt von dem eiskalten Tüddel um deinen Fuß! Den machen wir schnell noch ‘mal neu und dann gibt‘s Mittag.“
Oma konnte nicht gut kochen, aber ihr Gurkensalat war ‘Spitze‘ und den gab es heute zum Nachtisch. Heute sogar mit Petersilie! Und dann wurden Heringe gebraten. Die hatte sie auf dem Weg bei ‚Faerber‘ am Bahnhof geholt und davon gab es heute einen warm aus der Pfanne mit Kartoffelmus und die restlichen wurden mit vielen Zwiebeln in sauer eingelegt. Es würde also eine ‚Heringswoche‘ werden. Auch gut. Ich mochte das. Schließlich kam das tolle Geschenk: zwei neue Kinderbücher mit vielen Bildern und etwas Text. Nächstes Jahr sollte ich in die Schule kommen, aber etwas konnte ich jetzt schon entziffern!

 

Winteraufnahme, ein Kind spielt im Schnee, zwei Erwachsene stehen daneben. Im Hintergrund Häuser

Blick auf die Häuser am Langenrehm
und den Daniel-Bartels-Hof um 1955

 

Mann mit Kinderwagen und Hund auf schneebedecktem Gehweg, Läden im Hintergrund
Fuhlsbüttler Straße nahe dem Barmbeker
Bahnhof, links Cafe König, Winter 1953 auf 1954

 

Und dann schwoll mein Fuß doch schneller ab als gedacht und am Freitag konnte ich wieder laufen. Glücklicherweise, denn das war ein großer Tag! Opa nahm mich mit in den Stadtpark und der war voller Menschen. Hauptsächlich Männer mit vielen Fahnen und die meisten waren Rot. „Oh,“ sagte ich, „so viele Leute. Das ist doch bestimmt eine Million!?“ „Na,“ lachte er, „so viele sind es dann doch nicht, aber hunderttausend, vielleicht sogar zweihunderttausend Arbeiter könnten es sein! Heute sind so viele hier, weil ein ganz großer Mann eine Rede hält. Einer von den Metallern: Otto Brenner.“ Ich saß bei Opa auf den Schultern und verstand kein Wort von der Rede. Auch den großen Mann habe ich nicht gesehen, aber das lag wohl daran dass wir ganz am Rand standen. Mit mir wollte Opa nicht in die große Menschenmenge auf der Stadtparkwiese gehen. Er sagte, dass es zu gefährlich sei, wenn eine Schlägerei angefangen werden sollte. Als alles zu Ende war, gingen wir zwar zum Ausgang aber nicht gleich den Wiesendamm runter. Wir überquerten die Straße und gingen in ein klitzekleines Häuschen aus rotem Backstein. Es stand mitten auf dem Bürgersteig und war eine Kneipe. Die war brechend voll und wir fanden kaum Platz, aber schließlich konnte mein Opa doch eine sichere Ecke für mich finden und ich bekam einen heißen Kakao. Der wurde mir schlückchenweise in die Untertasse gegossen, damit ich ihn schneller trinken konnte. Bis eine ganze volle Tasse Kakao abgekühlt war, konnten wir leider nicht warten, denn zu Hause dampfte bestimmt schon die Hühnersuppe auf dem Herd. Opa konnte alles gleichzeitig: sein Bier trinken, meinen Kakao immer wieder umfüllen und mit den anderen Arbeitern diskutieren. Wir wären wohl beide gerne noch etwas länger dort geblieben…
Zuhause angekommen musste ich den Fuß dann doch wieder hochlegen und etwas kühlen, aber das war für nur kurze Zeit nötig. Am Montag würde er wieder ‚wie neu‘ sein und deshalb nahm ich Opa auch das Versprechen ab, dass ich mit zu seiner Arbeit durfte. Dann bräuchte Oma auch nicht kommen um auf mich auf zu passen.
Opa war Maurer und hatte auch das Haus gebaut, in dem wir jetzt wohnten. Das fand ich toll und dafür bewunderte ich ihn. Aber Dieter, der immer etwas zu meckern hatte, sagte dass es gar nicht stimmt. Neben der Haustür war eine Tafel eingemauert und auf der stand ‚aufgebaut‘ und deshalb, so sagte Dieter, hat er das Haus nicht gebaut sondern nur wieder aufgebaut. Aber ich konnte ja schon ein bischen lesen und deshalb wusste ich, dass er nicht Recht hatte. Auf der Tafel stand in Wirklichkeit nämlich ‘avgebavt‘! Ich wusste zwar nicht, was das heißen sollte, aber am Montag würde ich Opa bestimmt endlich ‘mal danach fragen.

 

Bauarbeiter vor einem Rohbau mit Schubkarren und Mischmaschine bei der Arbeit

Bauarbeiten Barmbeker Strasse

 

Das Wochenende verging unheimlich schnell. Und dann war es endlich Montag. Ich kriegte meine Manchesterhose an und eine zusammengeklappte und in Butterbrotpapier eingewickelte Scheibe Leberwurstbrot wurde in die Tasche des Brustlatzes meiner Hose gesteckt. Heute war die ‚Abholtour‘ dran, sonst hätte ich auch nicht mit gedurft. Opa und Herbert, sein Kollege holten mich mit dem Pritschenwagen ab und ich durfte zwischen Ihnen in der Fahrerkabine sitzen. Wir fuhren Material für die neue Baustelle holen und bei ‚Krüger und Scharnbek‘ oder ‚Möller und Förster‘ kannten sie mich schon und alle waren freundlich. Heute wurden wieder viele von den roten Klinkersteinen geladen. Da waren immer mehrere mit Draht zu einem Stapel zusammengebunden. Und weil ich unbedingt mithelfen wollte, wurden diese Drähte für mich durchgekniffen und ich konnte die Steine einzeln zum Wagen tragen und auf die Pritsche legen. Die konnte ich mal eben so erreichen und so war das eine ziemliche Herausforderung, aber es war toll! In der Pause saßen wir zu Dritt im Wagen und aßen unser Brot. Herbert und Opa tranken Kaffee aus der Thermoskanne und ich bekam eine kleine Flasche ‚Sinalco‘. Als Opa mich dann wieder zuhause ablieferte, lief ich schnell nach oben und gleich geradewegs zum Balkon um noch ‘mal zu winken. Sehen konnte ich ihn zwar nicht, aber ich konnte rufen und meine winkende Hand war etwas über der Brüstung zu sehen. Aber dann stockte ich, denn ich hörte wie Herbert zu meinem Opa sagte: „Deine Lütte, die wird auch ‘mal so‘n richtiger Barmbeker Briet!“ und Opa lachte und erwiderte: „Das kann wohl sein. Wäre nicht das Schlechteste!“ Ich stoppte im Lauf, holte ganz tief Luft und kriegte große Augen. „Mutti, ich weiß, was ich später‚ mal werden will!“ „Und was ist das?“ „Ich will ‘n echten Barmbeker Briet werden!“

 

Angelika Fassauer, 2020

Barmbek Erinnerungen von Angelika Fassauer