Schriftzug Geschichtswerkstatt Barmbek in weißen Buchstaben vor einer roten Backsteinmauer

Barmbek Erinnerungen von Heinrich T.

"Die Kristallnacht"

Die Pose zuckte, rüttelte: Da, jetzt der Biss, die Pose verschwand im naturtrüben Alsterwasser in die Tiefe. Der Anschlag mit der Angelrute folgte. „Nichts!“ Heinrich T. war enttäuscht. Diesmal war ihm sicherlich ein großer Brasse entkommen. „Schade!“ Heinrich T. saß schon lange auf dem blechernden, alten, umgedrehten Marmeladeneimer, mit seiner Angelrute aus Bambus, an der Buchtstrasse am Löschplatz am Wasserviereck, welches durch einen kurzen Kanal mit dem Wasser der Außenalster verbunden ist. Hin und wieder wurde die Stille durch Klingeln, Rumpeln und Quietschen der Straßenbahnen gestört, wenn sie vom Mundsburger Damm in die Buchtstrasse abbogen, um nach kurzem Halt, Richtung Lange Reihe zum Hauptbahnhof weiter zu fahren, oder umgekehrt vom Hauptbahnhof kommend bis zur Mundsburger Brücke fuhren.
Auf der Mundsburger Brücke gab es eine Weiche. Sie wurde vom Straßenbahnfahrer, der direkt auf der Brücke anhielt, bedient. Dafür musste er sich weit aus seinem Fahrstand lehnen, Um mit einer Eisenstange die draußen am Fahrstand hing, die Weiche zu stellen, je nachdem in welche Richtung die Straßenbahn fahren musste. Heinrich T. hörte schon gar nicht mehr das Quetschen und Rumpeln der Räder der Bahn. Seine Gedanken waren weit weg, er hatte Hunger, zu Hause warteten die Geschwister auf einen leckeren Fisch aus der Alster. Brassen und Rotaugen hatten zwar viele Gräten, aber das Fleisch dieser Fische war sehr schmackhaft und lecker. Gerade dann besonders, wenn man wie er auch am Hunger litt.
So trieben seine Gedanken in die Gegenwart, in eine Zeit, in der „ER“ lebte. Dieser Hitler seine Braunhemden, diese Kommunisten, diese politischen Strömungen, die mit ihrem Hass, mit Feindbildern und Parolen das ganze Volk vergifteten.
All das stank ihm zum Himmel, dass der Hitler Hilfspolizisten ernannt hatte, die nie den tiefen Teller erfunden hätten. Die haben nun das sagen und die Macht. Diese 16jährigen treten alten Leuten in den Hintern, wenn diese um leiseres Absingen von Marschliedern nachts um 24 Uhr bitten. Die alkoholisierten, jungen Hilfspolizisten halten jeden Einspruch gleich als Widerstand gegen ihren Führer. Das gehört ausgemerzt. Fanatisch wird jeder bekämpft und angezeigt. Ja, es geht die Angst um bei den Menschen, die nicht für den Maler, Tapezierer und Gefreiten sind. Die Macht dieser Hilfspolizisten ist groß und die Angst unter der Bevölkerung ist es auch, Die Juden sind in akuter Lebensgefahr, nichts ist deutlicher als das NSDAP- Programm.

 

So laufen Heinrichs Gedanken durch den Kopf. Im Geiste hört er die SA- Horden grölen, als er einen neuen Wurm auf seinen Haken zieht, mit lässigem und gekonnten Schwung wirft er seinen Köder gezielt an die Stelle, wo er einen Biss hatte. Dann setzt er sich auf seinen mitgebrachten Blecheimer um auf den nächsten Biss zu warten und seinen Gedanken nach zuhängen. Immer noch hört er lärmenden SA-Horden. Hassparolen gegen die Juden klingen durch die Luft. Es sind, das merkt er schnell, nicht seine Gedanken im Kopf, die den bekannten Lärm erzeugen. Nein es kommen immer mehr Stimmen mit lautem Gebrüll näher. Er dreht sich um und sieht schon viele Braunhemden vor den Häuser wohlhabender Juden in der Buchtstrasse in die Stadthäuser eindringen. Aus dem Mundsburger Damm kommt um die Ecke noch eine im Gleichschritt marschierende und Nazilieder ab singende Gruppe. Was folgt: Kommandos, Schreie, Lachen und Gläser klirren. Ein Hagel von Steinen, begleitet von Hassparolen fliegt in die Fenster. Bei irgendwelchen Zerstörungserfolgen jubelt die Menge grölend laut auf. Heinrich T. kann es nicht ertragen. Seine Wut über die Dummheit der Massen und seine eigene Machtlosigkeit machen ihn traurig.
Er dreht sich zurück zu seiner Angel. Auf einmal kommen die Stimmen der Braunhemden näher, schon fliegen Mäntel, Wäsche, Stühle und sogar eine Kommode mit lautem Hallo und Jubel links und rechts von Heinrich T. ins Wasser. In einer Pause hatten wir wiederum einen netten Small-Talk, und er konnte sich wohl nicht mehr an mich, aber doch noch an den Auftritt im historischen Jazz-Keller in Neuburg erinnern. Es war wieder ein unvergesslicher Abend!
Nun platzt es aus ihm heraus und er brüllt ohne Überlegung: „Was soll das denn?“ Schlagartig war es still. Der Anführer der SA baut sich vor ihm auf. Mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme, fragte er Heinrich T.: „Was soll was? Hast Du was dagegen? Hast du was gegen uns?“ Die Gruppe rückte immer näher der Kreis wurde immer enger. Da rettet Heinrich, was man heute emotionale Intelligenz nennt, aus dieser gefährlichen Situation. Mit lachender Stimme sagte er: „Nee, nee ich hab nichts gegen Euch. Aber ihr verjagt mir die Fische, wenn ihr alles neben meiner Angel in die Alster werft!“ „Oh wir verjagen ihm die Fische, der Arme!“ So entspannte sich für Heinrich die Situation. Der Anführer der SA brüllte an seine Leute einen kurzen Befehl: „An die Arbeit, Männer!“ Die Gruppe der Braunhemden verschwand grölend über die Straße, um in den Häusern der Juden ihr Zerstörungswerk zu vollenden. Heinrich T. packte seine Angel, nahm seinen alten Marmeladeneimer und war erleichtert davon gekommen zu sein. Er zog hinüber zur Schwanenwik, um dort in der Alster sein Anglerglück zu versuchen.

 

Heinrich T. hatte nach dem zweiten Weltkrieg eine Bosch-Auto-Elektrik-Werkstatt im Holsteinischen Kamp unter den Hochbahnkasematten. Sein Sohn Manfred J. führte das Unternehmen weiter, als Heinrich T. in den Ruhestand ging. Heinrich T. ließ es sich nicht nehmen, jeden Tag in den Betrieb zu kommen und sich irgendwie nützlich zu machen. Ich wartete auf mein repariertes Auto und er vertrieb sich die Zeit, mir aus seinem Erleben und Überleben des 1000jährigen Reiches zu erzählen. So bin ich zur obigen Geschichte gekommen. Beiden, Vater und Sohn, zeichnete eine Unaufgeregtheit und Gelassenheit in besonders schwierigen Situationen aus. Möge das von nachfolgenden Generationen auch zu sagen und zu schreiben sein. Das wünsche ich von ganzem Herzen meinem Jugendfreund und seiner Familie Manfred J.

Barmbek Erinnerungen von Heinrich T.